Das Unausweichliche der Kunst

Zu Ansgar Nierhoffs „Ausgleich nach dem Bildersturm“

Die Frage der Durchsetzungsfähigkeit von autonomer Kunst scheint heute keine zu sein. Wir haben uns daran gewöhnt, jede Form von Kunst für möglich zu halten, und sind sogar bereit, den Rollentausch insofern hinzunehmen, als wir im Abstrakten das Erzählerische entdecken und im Gegenständlichen das Konzeptuelle sehen können. Da außerdem, wie wir glauben, in unserem Jahrhundert alle denkbaren Grenzen der Kunstäußerung erreicht und überschritten wurden, sind wir so weitherzig und tolerant, dass kaum noch etwas aufregt oder einen Skandal heraufbeschwört. Darin liegt gewiss ein Fortschritt. Wir sind so offen geworden, dass wir nicht mehr der Gefahr ausgesetzt sind, das zu bekämpfen oder zu verunglimpfen, was weiter führt und neue Horizonte eröffnet. Darin liegt aber auch die Gefahr, dass wir orientierungslos das zulassen und feiern, was qualitativ diese Ehre nicht verdient. Aber wie soll man sich davor schützen, wenn die Umkehrung der Maßstäbe als neue Qualität möglich ist?

Trotzdem erliegen wir, die wir uns als ein Teil des Kunstbetriebes begreifen, einer Fehleinschätzung. Das merken wir, wenn wir die Besucherströme in Ausstellungen betrachten und feststellen müssen, dass die Kasseler documenta zwar alle fünf Jahre ein Magnet ist, dass aber die Massen, die durchgeschleust werden, in Wahrheit nur dem gleichen Gesetz folgen wie bei einer Chagall- oder Pharaonen-Ausstellung. In dem Augenblick nämlich, in dem die Anstöße einer documenta oder vergleichbarer Unternehmen in Einzel- oder Themenausstellungen weiterverfolgt werden, bleiben oft die professionellen Kunstliebhaber unter sich. Noch drastischer sind die Erfahrungen, wenn die im Kunstbetrieb wie selbstverständlich etablierte Moderne die gesicherten Museums- und Galerienräume verlässt und unvermittelt in die Provinz eindringt. Dabei ist, um Missverständnissen vorzubeugen, mit der Provinz keineswegs nur der kleinstädtische Raum gemeint; provinzielle Enge ist ebenso in den Metropolen verbreitet.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob das, was sich zwischen 1993 und 1996 im nordhessischen Frankenberg in der Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Ansgar Nierhoff ereignete, nur ein provinzielles Lehrstück ist oder ob der Streit um die vierteilige Werkgruppe „Ausgleich nach dem Bildersturm“ von grundsätzlicher Bedeutung ist. Um dies beurteilen zu können, muss man die Vorgeschichte kennen: Mit dem „Kunsttreff Frankenberg“ hatte sich eine rührige Initiative gebildet, die sich um Ausstellung zeitgenossischer Kunst bemüht. Auf die Idee, Nierhoff um die Mitarbeit an einem Projekt zu bitten, kam man, weil der Bildhauer für einige Zeit in Frankenberg gelebt und dort Abitur gemacht hatte und immer noch freundschaftliche Verbindungen zu ihm bestanden. Nierhoffs internationaler Ruf wirkte als Türöffner für die entsprechenden Genehmigungen und öffentlichen Zuschüsse, so dass im Frühjahr 1993 die dreiteilige Ausstellung verabredet werden konnte. Ansgar Nierhoff hatte sich für den Dialog mit der mittelalterlichen Architektur Frankenbergs entschieden und das ehemalige Georgenbergkloster, den Burgberg und die Liebfrauenkirche mit angebauter Marienkapelle als Ausstellungsorte ausgesucht. Auf die Frage, warum er seiner Ausstellung den Titel „Extrem“ gegeben habe, sagte Nierhoff im September 1993 in einem Interview der Frankenberger Allgemeinen: „Alle Arbeiten, die ich hier zeige, sind extreme Formumwandlungen. Hinzukommt, dass ich in der Marienkapelle, die durch extreme Handlungen über Jahrhunderte hinweg gar nicht mehr das war, was sie ursprünglich gewesen ist, mit extremen Formen gearbeitet habe….“

Der ab 1286 erbauten Liebfrauenkirche war 1370 an der südlichen Querkonche im ebenfalls gotischen Stil die oktogonale Marienkapelle angefügt worden, die wie ein Turm wirkt, der es nicht wagte, über das benachbarte Kirchenschiff hinauszuwachsen. Die Marienkapelle, die bis zur Reformation als Wallfahrtskirche diente, verfügte innen wie außen über eine ungewöhnlich reiche Figurenausstattung. Das Zentrum bildete an der Altarwand ein Gnadenbild. Als der hessische Landgraf Moritz zu Beginn des 17. Jahrhunderts die endgültige Durchsetzung der Reformation in seinem Lande betrieb, kam es vielerorts zum Bildersturm. Dabei wurden wohl 1607 in der Marienkapelle nahezu alle plastischen Figuren zerstört oder aus ihr entfernt. Danach hatte die Marienkapelle ihren religiösen Sinn und ihre Bedeutung verloren. Sie geriet ins Abseits, zumal sie mit ihren beiden gegenüberliegenden offenbar als ein Durchgangsraum für die Wallfahrer angelegt war.

Ansgar Nierhoff entdeckte die Kapelle neu. Für diesen Raum entwickelte er innerhalb seines „Extrem“-Projektes seine zentrale Werkgruppe. Der Marienkapelle, die ihren Figurenschmuck und damit ihre Sinngebung verloren hatte, wollte der Bildhauer wieder etwas zurückgeben und sie dadurch mit einem neuen Sinn erfüllen. „Ausgleich nach dem Bildersturm“ nannte er sie und schlug damit eine kulturgeschichtliche Brücke von der Gotik über die Zeit des Bildersturms bis hin zur Gegenwart. „Es ist“, so sagt Nierhoff rückblickend, „eine meiner bedeutendsten Arbeiten, die ich je gemacht habe.“ Sie ist vierteilig und besteht aus geschmiedetem und gewalztem Stahl – ein 9,20 Meter langer Rundstab, eine geteilte Kreisfläche mit einem Gesamtdurchmesser von 3,90 Metern und eine Kugel mit einem Durchmesser von 69 Zentimetern. Die vierteilige Arbeit nahm die Marienkapelle in Besitz und füllte sie aus. Die Besucher, die eintraten, konnten und sollten die auf dem Boden liegende geteilte Kreisfläche betreten. Sie bot sich als Plattform an und gab der oktogonalen Kapelle einen neuen, aus der Mitte verschobenen Grund. Dabei markierte die Schnittlinie der Kreisfläche genau die Achse, die von dem einen Eingang zum anderen führte. Neben der Kreisfläche lag, zur leergeräumten Altarwand hingewendet, die Kugel. Und vom Rand der auf dem Boden liegenden Scheibe lehnte schräg gegen die Wand, der Stab, der den Blick auf die Altarwand und in die Höhe lenkte.

Die Akzentuierung des historischen Raumes und der Verweis auf seine Grundstruktur und seine Leerstellen ist der eine Aspekt der Arbeit. Durch ihn offenbart sich die ortsbezogene Konzeption. Die auf dem Boden ruhende Kreisfläche deutet darauf hin, dass die achteckige Kapelle ihrem Wesen nach zur runden Form drängt. In der Kugel versinnbildlichen Verdichtung, Konzentration und Vollendung der gotischen Form. Und der Stab endlich betont die schlanke Höhe des Bauwerks.

Unabhängig davon entfaltet „Ausgleich nach dem Bildersturm“ auch eine eigene, innere Spannung. Das beginnt damit, dass Nierhoff die vier Teile so gestaltete, dass jedes aus der gleichen Menge Stahl besteht, was nichts anderes bedeutet, dass in jedem Element alle vier Formen angelegt sind. Aus dem Kreissegment kann der Stab werden, aus der Kugel die plattgewalzte Fläche. Die Formen sind ebenso notwendig wie austauschbar. Darüber hinaus birgt die Arbeit noch eine andere Denkfigur: Wir erleben drei unterschiedlichen Ausprägungen der runden Form – die zusammengesetzte Scheibe als Fläche und Plattform, die Kugel als plastische Kompression mit einem Moment der Bewegung und der runde Stab als Streckung, als ein in Raum und Zeit verweisendes Element. Die Masse, die in der Bodenscheibe so schwer und unbeweglich erscheint, gewinnt in der Kugel und noch mehr im Stab dynamische Kraft und einen Anflug von Leichtigkeit.

Das bedeutet, dass diese vierteilige Skulptur, deren Elemente auf den ersten Blick wie unverbunden wirken mögen, aufs Engste miteinander verknüpft sind und aus sich selbst heraus eine Spannung aufbauen. Und doch kann man von dem Ortsbezug nicht absehen. Erst in der Frankenberger Marienkapelle können sich Dehnung, Streckung und Kompression zielbewusst entfalten. Deshalb hat Nierhoff, als er jetzt anlässlich seiner Bonner Ausstellung die Möglichkeit erhielt, „Ausgleich nach dem Bildersturm“ an der Außenwand des Münsters zu installieren, davon abgesehen, eine verwandte Platzierung vorzunehmen. Wohl ist der Stab an die Kirchenwand gelehnt, doch liegt die Kugel weiter weg. Die geteilte Kreisfläche aber ist nur im Depotzustand zu sehen; ihre beiden Teile lehnen ebenfalls an der Kirchenmauer. Das Signal ist überdeutlich. Der Boden für „Ausgleich nach dem Bildersturm“ ist entzogen, in Bonn kann man sich nicht auf die Plattform begeben, von der aus der Kirchenraum neu zu erleben ist. Stattdessen wird eine andere Dialogebene wirksam, denn unübersehbar stellt sich eine Beziehung her zwischen den Rundbogen der beiden auf dem Boden stehenden Kreissegmente und den Rundbogen in der Kirchenmauer sowie über dem Kruzifix. So hat sich aus dem Vollzug der Kreisteilung am neuen Ort ein neuer Formensinn ergeben.

Warum hält Ansgar Nierhoff trotzdem an dem Frankenberg-Bezug fest? Weil zum einen die Werkgruppe für diesen Ort gemacht war und weil zum anderen für einige Zeit die Chance greifbar schien, „Ausgleich nach dem Bildersturm“ auf Dauer in der Marienkapelle zu belassen. Die Mittel der hessischen Kulturstiftung zum Ankauf waren bereits in Aussicht gestellt, das Votum der Experten klang eindeutig und die Begeisterung des „Kunstreffs“ in Frankenberg war entsprechend groß. Allerdings wurde die Begeisterung nicht von allen in der Stadt geteilt. Die ersten ablehnenden Reaktionen waren gemäßigt und differenziert. Erst in der zugespitzten Diskussion des Jahres 1995 über den dauerhaften Verbleib fielen Worte, die verunglimpfenden Charakter hatten und die eine für die Kunst und den Umgang der Menschen unselige Atmosphäre schufen, die an Debatten über „entartete Kunst“ erinnerte und die Entscheidung für oder gegen Nierhoffs zu einer Machtfrage werden ließ. Als gar 600 Unterschriften gegen „Ausgleich nach dem Bildersturm“ eingesammelt waren und der getroffene Künstler wortreich zurückgeschlagen hatte, waren die Brücken abgebrochen. Ende 1996 wurde die Arbeit abgeräumt. War das Unternehmen „Extrem“ damit gescheitert? Keineswegs, denn beispielsweise hatten die Eisenzeichnungen Nierhoffs , die in der Liebfrauenkirche wie Reliefs einer Kreuzwegstation wirken, soviel Zustimmung geweckt, dass die frühe Entscheidung, sie für diesen Kirchenraum zu erwerben, nicht zur Debatte stand.

Was aber unterscheidet die geduldeten und beifällig betrachteten Eisenzeichnungen von der Werkgruppe „Ausgleich nach dem Bildersturm“? Für jemanden, der Nierhoffs Werk kennt und schätzt, gehören die Zeichnungen zwingend zum Gesamtwerk, wobei sie eine besondere Nähe zu den Papierarbeiten aufweisen. Doch ihre Eigenart – im Vergleich zu der Skulpturengruppe – besteht darin, dass sie sich im großen Kirchenraum wie andere Bilder zurücknehmen und dass ihnen dank der Prägungen eine Erzählstruktur innewohnt. „Ausgleich nach dem Bildersturm“ hingegen bietet außer dem Titel keinen erzählerischen Ansatz. Ebenso ist ihr alles Dekorative fremd. Die Skulptur besteht aus Volumina und Formen , die für die Prinzipien stehen, nach denen sie gestaltet wurden, aber außer der Spannung zu dem Ort, für den sie geschaffen wurden, nichts bietet, was die Kirche aus ihrer Entfremdung befreit. Wer mit dem Kirchenraum vorher nicht zurechtkam, findet in Nierhoffs keine Hilfe, wenn er nur Ersatz für die zerstörten Figuren und das Gnadenbild sucht. Die Arbeit fügt etwas hinzu und führt auf diese Weise, die Architektur und deren Geschichte aktivierend, über sie hinaus. Noch entscheidender ist ein anderes Moment: Niemand konnte die Marienkapelle betreten und dabei „Ausgleich nach dem Bildersturm“ übersehen. Jeder, ohne Ausnahme jeder, musste sich dieser Arbeit an diesem Ort stellen: Dehnung, Streckung, Kompression. Massiv. Unerbittlich entfaltete die Skulptur ihr strenges und dabei so klares Formenprogramm. Die Kunst wurde so unausweichlich wie die Ausstattung einer Barockkirche.

Ansgar Nierhoffs Schaffen steht in der Tradition der Nachkriegsmoderne. Der Schüler von Norbert Kricke hat in der Auseinandersetzung mit dem kraftvoll bearbeiteten Metallen eine abstrakt-konstruktive Sprache entwickelt, die in der Rückschau logisch erscheint. Und doch: In der Marienkapelle in Frankenberg erlebten der Künstler und die Öffentlichkeit einen qualitativen Sprung in die Radikalität, obwohl Nierhoff im Grunde keinen Bruch vollzogen hatte. Der wahre Unterschied zu vielen anderen Arbeiten bestand darin, dass es in der Enge des Raumes fast nichts gab, was nicht in Beziehung zu „Ausgleich nach dem Bildersturm“ stand. Die Architektur war kaum noch denkbar ohne diese vier Elemente. Solche Radikalität gelingt kaum im Kunstbetrieb. Wir erfahren die unterschiedlichsten und extremsten Positionen, aber nur selten empfinden wir Kunst als etwas Unausweichliches. In der Kapelle war der Punkt erreicht. Dergleichen konnte nur begeistern oder provozieren. Dazwischen gab es nichts.
Ein solches Ziel hatte Nierhoff schon lange, zeitweise unbewusst, verfolgt. Als Beleg dafür kann man eine Äußerung von ihm nehmen, die er 20 Jahre zuvor im Hinblick auf völlig andere Arbeiten gemacht hatte: „…ich halte es weiterhin für ein wichtiges Kriterium meiner Arbeit, den Betrachter zu fesseln, zu fangen, so zu beschäftigen, dass er im Augenblick gar nichts anderes tun kann. Er kann sich nicht in Äußerungen und Bemerkungen flüchten, sondern ist angewiesen auf das, was da ist…“
Aus: Ansgar Nierhoff: Rotation, Rheinland Verlag, Köln, 1999, S. 11ff.

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