Thematische Linien durch die Documenta 11 (9) Die Fotografie gewinnt eine zentrale Rolle
Fotografische Arbeiten gehören heute selbstverständlich zu Kunstausstellungen und Museumssammlungen. Es ist kaum noch nachvollziehbar, dass um die Frage, ob Fotografie denn Kunst sein könne, in den 70er-Jahren heftig gestritten wurde. Die documenta6 von 1977 wurde in dieser Beziehung mit ihrer riesigen Fotoabteilung zum Meilenstein. Sie trug dazu bei, dass die Fotografie fortan als Ausdrucksmittel von Künstlern eher akzeptiert wurde. Allerdings wurde damals noch streng unterschieden zwischen einer dokumentierenden, berichtenden und einer künstlerisch freien Fotografie. Diese Unterscheidung hatte die documentaX aufgegeben. Unter Catherine David wurde die Fotografie als ein Medium in die Ausstellung eingeführt, das beliebig nutzbar ist zur Dokumentation der Wirklichkeit und zur Inszenierung von Erzählungen. Diese Position hatte übrigens auch schon die documenta5 eingenommen, als sie die Fotos von Hilla und Bernd Becher, die auch in der Documenta 11 eine Schlüsselrolle spielen, und von Gilbert & George innerhalb ihrer Konzeptabteilung zeigte. Rund zwei Dutzend der 118 Künstlerinnen und Künstler sind mit Fotoarbeiten in der Documenta 11 vertreten. Das heißt jeder fünfte Teilnehmer an der Ausstellung arbeitet mit der Fototechnik. Diese Massierung ist enorm. Zu erklären ist sie durch zwei Aspekte: Okwui Enwezor und sein Team sind an Arbeiten interessiert, die sich mit der Welt auseinander setzen, die zur Beschreibung und Erklärung der Realität beitragen. Das leistet die Fotografie zuverlässig, auch wenn man nicht vergessen darf, dass die Fotos ebenso zur Wahrheit taugen wie zur Lüge. Außerdem darf man nicht übersehen, dass die klassischen künstlerischen Medien sich heute nur begrenzt auf die Beschäftigung mit der Wirklichkeit einlassen. Bei der Begründung der Künstler-Auswahl haben die Kuratoren oft damit argumentiert, dass einzelne Künstler für bestimmte Positionen stehen also auch stellvertretend für andere, die ebenso arbeiten. Trotzdem überrascht, dass in der dokumentarischen Fotografie mehrere Künstler gleichwertig eine Position vertreten, woraus sich zwangsläufig der Schluss ziehen lässt, dieser Bereich sei in der Documenta 11 überbewertet. Ein Beispiel: Im Kulturbahnhof hängen in einem Raum die Bilder von Kendell Geers, der in klarer und auch poetischer Form Absperrungen und Sicherheitsanlagen an privaten Wohnhäusern vorführt, und die Aufnahmen von Lisl Ponger, die auf verhaltene Weise die Spuren der Auseinandersetzungen um den G8-Gipfel in Genua (2001) festhalten. Beide Serien können durch ihre Unaufdringlichkeit überzeugen. Sie unterscheiden sich aber nicht so stark, dass man beide Positionen brauchte. Auf der anderen Seite lädt die Ausstellung dazu ein, auch innerhalb der dokumentarischen Fotografie zu unterscheiden. Hilla und Bernd Becher können als die Pioniere der neueren Konzept-Fotografie gelten. Mit ihrer systematischen Bestandsaufnahme von Gebäudetypen (bei immer gleichen, diffusen Umweltbedingungen) haben sie Maßstäbe gesetzt. An die hält sich etwa auch Michael Ashkin mit seinen Bildern von trostlosen Vorstadt-Landschaften. Candida Höfer bezieht eine Gegenposition dazu: Ihre Fotos von den zwölf Abgüssen von Rodins Bürger von Calais zeigen ein und dieselbe Form an verschiedenen Standorten aus wechselnden Perspektiven. Für eine regelrechte Entdeckung sorgen die fotografischen Essays, so wie sie Allan Sekula oder David Goldblatt angelegt haben. Mit ihren beiläufig wirkenden Bildern kreisen sie ihre Themen ein. Erst in der Reihe verdichten sich die Fotografien, wobei Sekula durch eingestreute Texte noch andere Dimensionen sichtbar werden lässt. Die Kraft, Härte und auch die Trauer über die Zustände offenbaren sich erst allmählich. Das ist überhaupt das Kennzeichnende der Fotoarbeiten, die von Gewalt, Schrecken und Tod berichten: Sie tun das indirekt und zeigen meist nur die Spuren auf. Angesichts der Übermacht der dokumentarischen Bilder spielt die inszenierte Fotografie nur eine Nebenrolle. Allerdings findet diese Fotokunst in den erzählerischen Dia-Projektionen von James Coleman einen hervorragenden Repräsentanten (neben dem großartigen Jeff Wall). Auch August Sander inszenierte seine Porträts, als er in den 20er-Jahren eine Typologie der deutschen Stände schaffen wollte. Fiona Tan nimmt Sanders Arbeit wieder auf allerdings mit einem feinen Unterschied: Sie stellt die Menschen im Film vor, in dem die Porträtierten still verharren, anderes um sie herum sich aber bewegt. Eine Sonderrolle unter den Fotoserien gewinnt die Arbeit der Bildhauerin Isa Genzken: Sie präsentiert Spiegel-Fotos aus dem Jahrgang 1991 und lädt damit zu einer Reflexion über das illustrative Medium ein. Wer von der Fotografie der Documenta 11 spricht, muss auch an Alfredo Jaar denken, der in Text- und Lichtprojektionen die Bildvernichtung und -auslöschung beschwört. An Jaars Installation lässt sich auch studieren, wie man über die Auseinandersetzung mit der Fotografie zu der Frage nach dem Bild und seiner Funktion gelangen muss.
HNA 2. 8. 2002