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Wandlung des Bildes

Thomas Bayrle „Seniorenfeier“, Museum Wiesbaden

Ein Künstler ist in die Jahre gekommen. Im nächsten Jahr wird Thomas Bayrle 80. Aus diesem Anlass wird das New Museum in New York ihm eine Ausstellung widmen. Doch Grund zum Feiern gibt es auch schon dieses Jahr, denn vor 50 Jahren hatte Bayrle in Wiesbaden eine seiner ersten Museumsausstellungen. Also gibt es nun im dortigen Landesmuseum eine Schau, die an den frühen Pioniergeist des Frankfurter Künstlers erinnert und einen Bogen über das halbe Jahrhundert schlägt. Ja, es ist Zeit für eine „Seniorenfeier“. Doch indem der Künstler diesen Titel mit einem Augenzwinkern selbst wählt, macht er klar, dass er keineswegs nur in Erinnerungen schwelgt. Sein Schaffen steckt bis heute immer wieder voller Überraschungen.
Das hatte er zuletzt 2012 unter Beweis gestellt, als er anlässlich der documenta 13 in der Kasseler documenta-Halle nicht nur zwei monumentale Wandarbeiten zeigte, sondern den riesigen Saal auch mit Motorengeräuschen und raffiniert untergelegten Gebeten und Gesängen erfüllte. Bayrle hatte Flugzeug- und Automotoren aufschneiden lassen und präsentierte nun die von uns so verehrten Antriebsmaschinen als Meisterwerke der Ingenieurkunst, kühl und schön und voller Dynamik. Damit hatte er seiner Auseinandersetzung mit der Maschinenwelt eine neue, ins Ästhetische gehobene Wendung gegeben. Denn diese Werkgruppe wirkt wie ein später Rückgriff auf die witzig-bunten Automaten, die Bayrle Mitte der 60er Jahre geschaffen hatte und mit denen er 1966 in Wiesbaden debütierte.
Der Raum mit den 50 Jahre alten Automaten bildet jetzt das Zentrum von Bayrles Ausstellung. Da sieht man eine Frauen-Hundertschaft, die im unerschütterlichen Rhythmus in der einen Hand den Schrubber und in der anderen die Ajax-Flasche schwingt. Und dann schaut man begeistert zu, wie hinter einem großen Mann im weißen Kittel dutzende Figuren im Wetteifer mit der Super-Colgate die Zähne putzen. Was, so fragt man sich, fasziniert mehr – die Tatsache, dass die Automaten ihre Figuren im Gleichklang der Bewegung laufen lassen, oder dass die naiv-karikierende Bemalung der Figuren ein Gegenbild zu der Werbewelt schafft, aus der die Motive ebenso stammen wie aus den Bildern des chinesischen Massenkults.
Schon damals hatte Thomas Bayrle sein zentrales Thema gefunden – das Phänomen der Masse. In dem hochformatigen Werk „Mao und die Gymnasiasten“ sieht man eine endlose Schar gleich gekleideter Schüler, die Rumpfbeugen vorführen und die von winzigen Gesichtern beobachtet werden, die rundherum auf den Rand des Automaten gemalt sind. Der Mao-Kult und die chinesischen Massenbewegungen hatten damals die westeuropäischen Länder in ihren Bann gezogen. Und Thomas Bayrle gelang es, diesen Kult auf die Spitze zu treiben und ihn der Heiterkeit auszusetzen. Die höchste Form in dieser Hinsicht gelang ihm 1967, als er auf der Grundlage eines Fotos aus einer chinesischen Publikation eine wandfüllende Tapete (Siebdruck) von vermeintlichen Kartoffelzählern entwickelte, in der das Zählbare nicht mehr fasslich ist.
Bereits in seinen 1961 entstandenen Zeichnungen und Lithographien von den Menschenmassen, die sich auf Stränden und in Schwimmbädern tummeln, spürt man, wie sich Bayrle bemüht, die Wiederkehr des immer Gleichen in eine feste, sich selbst gestaltende Form zu bringen. In den 70er Jahren hatte er den Weg zu seiner Lösung gefunden. Er schuf nun aus Rastern identischer Alltagsformen sogenannte Superformen, deren kleine, sich im Inneren stets wiederholende Motive er mit Hilfe von Zeichnungen auf Gummi und Latex selbst dann einsetzen konnte, wenn sie verbogen oder verzerrt werden mussten. Das „Telefonmädchen“ setzt sich aus lauter Telefonen zusammen, und die Figur der Nackten mit den spitzen Absätzen unter den Füßen besteht aus kleinen Bildern hochhackiger Schuhe.
Diese Technik wurde zum Markenzeichen von Thomas Bayrle. Deshalb wurde das monumentale Wandbild „Flugzeug“ von 1982/83, das sich aus einer unübersehbaren Zahl kleiner und kleinster Flugzeug-Bildern zusammensetzt, noch einmal zur documenta 13 präsentiert. Aber darin steckt nicht nur eine Spielerei, die auf Augentäuschung setzt. In seinen Zeichnungen etwa, in denen sich unendlich viele Autobahnen kreuzen („Straßenstruktur I“, 1975) zeigt der Künstler auf, wie sich ein Verkehrssystem ins Absurde steigert. Grotesk wird die Auseinandersetzung mit dem Verkehr, wenn Bayrle in der Fotocollage „Himmelfahrt“ das gotische Bild des Gekreuzigten auf das Foto einer Autobahn projiziert und damit die tödliche Dimension des Autofahrens andeutet. Makaber wird die Collage deshalb, weil sich der Körper des Gekreuzigten wiederum aus winzigen Bildern von dicht befahrenen Straßen zusammensetzt.
Thomas Bayrle hat der deutschen Kunst den Weg zur Pop Art gewiesen. Mit Vorliebe arbeitete er mit den Motiven, die er in der Alltagswelt fand. Doch er begnügte sich nicht mit der zitierenden Übernahme. Indem er mit den Bildern spielte, stellte er sie in Frage. Gerade seine Arbeiten der letzten 20 Jahre gingen über das Spektakuläre der Pop Art hinaus. So ist es verdienstvoll, dass die Ausstellung mit der jüngsten Arbeit beginnt. Die Wände des Eintrittsraumes sind rundum mit einer dynamisch wirkenden Tapete beklebt, die Thomas Bayrle in den Jahren 2013 bis 2016 entwickelte und die den Titel trägt: „Indian Cucumburs dedicated to Michel Majerus“. Diese Arbeit ist dem luxemburgischen Künstler Michel Majerus gewidmet, der 2002 im Alter von 35 Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Majerus liebte es, sich für seine Werke aller in allen denkbaren Bildwelten zu bedienen und damit die Frage nach dem Wesen des Bildes zu stellen. Genau deshalb waren von Majerus auch Arbeiten in der Kasseler Ausstellung „Images“ zu sehen, in der Susanne Pfeffer die Wandlung des Bildes untersuchte. Also blieb Bayrle dem Geist von Majerus innerlich verbunden, als er zwei Motivstränge des Jüngeren in seine Arbeit mit einer Verbeugung unternahm. Eine reizvolle Verschmelzung.
Noch eine andere Ehrung besonderer Art bezog Thomas Bayrle in seine Ausstellung ein: Er trug Werke seines Vaters Alf Bayrle (1900-1982) zusammen, die zwischen spätem Expressionismus und abstrakter Malerei tendierten und die beweisen, dass der Sohn auf fruchtbarem Boden begann.
Katalog „Seniorenfeier“, Buchhandlung König, Köln, 232 Seiten, 34 Euro
museum-wiesbaden.de
2016, Kunstforum 240