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Unpacking

In den frühen Jahren der documenta ging es unter Lokalpatrioten um die Frage, welche Kasseler Künstler es in die Weltkunstausstellung schaffen würden. Die Frage ist auch nicht nur deshalb uninteressant geworden, weil zuletzt keine heimischen Künstler dabei waren.

Immerhin haben es einige mit ihren Arbeiten geschafft, Zeichen auf Dauer zu setzen: Walter De Maria war, wenn man es so nennen darf, der größte Coup gelungen, indem er den anfangs so wenig geliebten Erdkilometer so unauflöslich mit dem Boden der Stadt vereinigte, dass er auf immer dort verbleiben kann. In gleicher Weise schuf Joseph Beuys mit seinen „7000 Eichen“ ein Kunstwerk, das zu einem Teil der Stadt geworden ist.

In jüngster Zeit aber suchte die documenta nach anderen Verknüpfungen mit der Stadt Kassel. Das fing 2007 mit Roger Buergels documenta 12 an, als er im Kulturzentrum Schlachthof einen Beirat der documenta ansiedelte, der dem documenta-Team helfen sollte, das richtige Gefühl für die Geschichte und die Wirkkräfte der Stadt zu entwickeln. Das führte dazu, dass mehrere Kunstprojekte direkt auf die Stadt bezogen wurden. Carolyn Christov-Bakargiev verstärkte 2012 diese Stoßrichtung. Sie suchte Verknüpfungsmöglichkeiten und fand sie im Fridericianum, das nun auf einmal nicht nur Ausstellungsort, sondern Geschichtsquelle war – als die Landesbibliothek, die im Krieg zerbombt wurde, im Ottoneum mit seiner Holzbibliothek oder in Breitenau, dessen Geschichte jeder der teilnehmenden Künstler studieren musste.

Adam Szymczyk setzt das 2017 fort und findet neue Zugänge. Noch bevor er zum documenta-Leiter berufen wurde, hatte er sich in der Kunsthalle Basel mit Annemarie und Lucius Burckhardt beschäftigt, die aus der Schweiz stammen, durch ihre Forschungs- und Lehrtätigkeit an der Gesamthochschule (Universität mit Kunsthochschule) tiefe Spuren in Kassel hinterlassen. Lucius Burckhardt war ein Mensch, in dessen Gedankenwelt Kunst, Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung, Design-Theorie und Soziologie zu einem wissenschaftlichen Gesamtkunstwerk verschmolzen. Mit seinem Wort vom „unsichtbaren Design“ begründete er einen Wechsel in der Kunst der Wahrnehmung: Nicht das formvollendete Radio oder das schnittige Auto machen das wahre Design aus, sondern die Frage, wie ein städtischer Platz mit Verkehrsschildern, Papierkörben oder Fußgängerwegen gestaltet (möbliert) wird. Die entscheidende Frage kann sein, ob der Zebrastreifen an der richtigen Stelle markiert wurde.

Die Burckhardts haben eine neue Schule der Wahrnehmung begründet. Dem diente auch die von Burckhardt entwickelte Spaziergangswissenschaft, die dazu dienen sollte, den Weg durch die Stadt oder Landschaft neu zu erleben, besser wahrzunehmen. Noch zu ihren Lebzeiten haben die Schüler der Burckhardts deren Ideen aufgegriffen und weiterverfolgt. Der prominenteste ist Martin Schmitz, der jetzt eine Professur an der Kunsthochschule Kassel ha und der dabei ist, die verstreuten Schriften zusammen zu fassen. In dem „Peppermint“ genannten Raum der documenta-Vermittlung (direkt neben Dock 4) ist in Regalen der Restbestand der Burckhardtschen Bibliothek in Kassel aufgebaut. Sie wird ebenso Teil der documenta werden wie die kleinen Aquarelle von Burckhardt. Szymczyk will den Beitrag Burckhardts genauso als einen Fund der documenta einführen wie Gemälde von Arnold Bode (womit daran erinnert wird, dass Bodes Ausstellung ganz solide regionale Wurzeln hatte.
Gestern (15. 2.) fand ein zweites „Unpacking Burckhardts“ in dem „Peppermint“-Raum statt, das dazu dienen soll, die Bücher und deren Inhalte vorzustellen. Martin Schmitz charakterisierte die Burckhardts und berichtete aus der Wirkungsgeschichte der beiden. Dazu geladen war die Fotografin Monika Nicolic, die seit den 80er Jahren die documenta begleitet hat. Spannend waren vor allem die Foto-Dokumentationen vom Aufbau der Bundesgartenschau, die zeigten, dass der Natur- und Parkraum in der Aue erst einmal brutal zerstört werden musste, bevor die „kunstvollen“ Blumenanlagen geschaffen werden konnten. Prof. Helmut Holzapfel erläuterte Burckhardts Design-Theorie.

Eine andere Kasseler Wurzel hat Szymczyk ebenfalls im Kreuzungsbereich von Bauen, Leben und Klängen entdeckt Prof. Gernot Minke hat als Pionier die Konstruktion von Lehmbauten erprobt und gezeigt, welche großartigen Reservoire in dieser Technik stecken. Die Lehmbauten sorgen nicht nur für hervorragendes Raumklima, sondern bielen sich auch als Klangkörper an.