Das Publikum im Blick

Ein Gespräch mit dem künstlerischen Leiter der documenta12, Roger M. Buergel

Herr Buergel, wie gehen Sie an die Vorbereitung der documenta12 heran? Gehen Sie von der Situation der Gesellschaft oder von der Situation der Kunst aus?
Buergel: Mir geht es natürlich um die Schnittmenge. Das heißt: Mich interessieren gesellschaftliche Prozesse, weil wir Gesellschaft nicht ausschließlich durch Kunst wahrnehmen. Aber es ist wichtig, Kunst nicht nur aus dem Blickwinkel der Gesellschaft zu betrachten. Deshalb interessiere ich mich in der klassischen Weise für die Kunst, auch für die, die nicht in die Gesellschaft passt. Ich denke sehr stark im Hinblick auf ein Publikum.
Die documenta hat besondere Traditionen, mit Publikum umzugehen. Es gab die Besucherschulen von Bazon Brock, und die beiden letzten Ausstellungen boten dichte Führungsprogramme an.
Buergel: Ich habe nichts gegen Führungen. Aber sie können auch zu einer Form der Verdummung führen. Die Gefahr ist, dass Dinge verständlich gemacht werden, die vielleicht gar nicht verständlich sind. Andererseits erkenne ich an, dass es ein Informationsbedürfnis gibt, das befriedigt werden muss. Aber ich würde mich stark darauf verlassen, dass die Intelligenz, um die es in der Kunst geht, durch die Präsentation der Ausstellung selbst ermöglicht wird. Etwa wenn man Vergleichbarkeit herstellt und zeigt, dass Künstler in unterschiedlichen geopolitischen Zusammenhängen zu ähnlichen Lösungen gekommen sind. Mit der Vergleichbarkeit gibt man dem Publikum einen Schlüssel in die Hand.
Sie wollen bis zu den Ursprüngen der Moderne zurückgreifen, die Sie in der Zeit der Französischen Revolution ansetzen. Steht dahinter der Gedanke, die Werke sich gegenseitig erklären zu lassen? Buergel: Ja. Ich habe allerdings bei meiner Archivarbeit festgestellt, dass schon Jan Hoet Jacques-Louis David und Gauguin ausgestellt hat. Was man in einer großen Ausstellung leisten kann, ist, die Traditionslinien, für die sich die Künstler selbst interessieren, nachzuzeichnen. Dann werden bestimmte Lösungen erst verständlich dass eine zeitgenössische Arbeit wie die Schaumkrone einer Welle ist, die von ganz weither kommt.
Sie wollen nicht über die vorangegangenen documenta-Ausstellungen urteilen. Aber es gibt Bezüge. Sie haben mehr als einmal mit Catherine David zusammengearbeitet. Besteht da eine gedankliche Nähe? Buergel: Ich fand die documentaX tatsächlich sehr schön. Was uns verbindet, ist das Interesse, mit dem Medium Ausstellung zu arbeiten. Das heißt nicht, dass wir zu ähnlichen Lösungen kommen.
Sie haben vielen aus der Seele gesprochen mit dem Satz, Sie wollten die Besucher nicht in muffige Videokabinen scheuchen. Dennoch ist Video heute ein existenzielles Mittel vieler Künstler. Suchen Sie nach anderen Präsentationsformen?
Buergel: Es ist an der Zeit, die Form der Video-Präsentation aufzubrechen. Man kann von Filmemachern verlangen, im Format Ausstellung zu denken und ihre Filmpraxis darauf abzustellen. Das hatten wir mit Harun Farocki in Wien ausprobiert: Wie kann man einen Raum angenehm ausgestalten, dass sich die Besucher dort für zehn Minuten aufhalten und dass die Arbeit als Film funktioniert? Man kann mittlerweile auch bei Tageslicht projizieren; das sind dann allerdings nicht die Mega-Projektionen.
Hat die Malerei tatsächlich an Bedeutung verloren, wie die beiden vorigen Ausstellungen nahe legen, oder wurde sie nur vernachlässigt?
Buergel: Ich finde in den Ins-tallationen von James Coleman mehr Malerei als in vielen Ölbildern. Aber ich kenne auch gute Malerinnen und Maler. Für mich ist das Medium nach wie vor aktuell.
Sind Sie ein Team-Arbeiter?
Buergel: Ja. Ich habe den Prozess gern, in dem das zerstört wird, was ich allein ausgedacht habe. Das gilt sowohl für den Austausch mit meiner Frau Ruth Noack als auch mit Künstlern. Ich werde gerne dekonstruiert, weil mir das hilft, meine Konzepte zu schärfen.
Bei Ihrer Vorstellung sagten Sie, dass man hinter den globalen Kunstdialog der Documenta11 nicht zurück kann.
Buergel: Was formal bei der Documenta11 nicht geklappt hat, ist die Rückbindung der Plattformen an Kassel. Aber zur documenta gehört, dass sie von Hause aus global ist. Es wird interessant sein, die Geschichte der Moderne noch einmal ganz anders zu schreiben zu sehen, was die Auseinandersetzung zwischen lokaler und internationaler Moderne an unterschiedlichen Orten wie Barcelona oder Beirut bedeutet.
Gab es Bereiche, die in der Documenta11 unterbelichtet waren?
Buergel: Der ganze postsowjetische Raum war immer ein Stiefkind der documenta. Ich habe aber nicht das Problem, eine Weltausstellung machen zu müssen. Dadurch, dass ich mich auf Methoden beschränke, habe ich nicht das Gefühl, dass ich alles zeigen muss.
Sie wollen auch mit lokalen Künstlergruppen zusammenarbeiten.
Buergel: Künstlergruppen, die hier sind, haben sehr konkrete Vorstellungen von der documenta.
Sie leiden ja auch unter ihr.
Buergel: Klar, sie werden von ihr überfahren. Man muss sehen, ob und wie es geht. Denn man muss sie davor schützen, sich lächerlich zu machen. Aber sie könnten in die Diskussion einbezogen werden.
Es wurde mehrfach versucht, die anderen Künste, etwa das Theater, in die documenta einzubeziehen … Buergel: Theater als Betrieb interessiert mich hier weniger. Aber viele Künstler gehen in diese Bereiche hinein. James Coleman und Peter Friedl arbeiten mit Theater oder Allan Sekula mit Formen der Oper. Da gibt es Überschneidungen.
Wenn Sie ein Team bilden, denken Sie da nur an Kollegen, Kuratoren also, oder auch an Künstler? Buergel: Beides. Die Konzepte, die Ruth Noack und ich entwickeln, entstehen aus Atelier-Erfahrungen. Ich habe mit Künstlern mehr zu tun als mit Kuratoren. Aber wir hatten auch schon die Idee, in Kassel mal so etwas wie ein öffentliches Hearing zu veranstalten, also eine Bürgerversammlung, in der man einen größeren Diskussionsrahmen hat.
HNA 24. 12. 2003

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