Leitmotive der documenta 12

Die Moderne, das Leben und die Vermittlung

Vor der Ausstellung steht der Diskurs. Zum dritten Mal gilt diese Feststellung für die Kasseler documenta. Der künstlerische Leiter Roger Buergel hat sich und allen, die an der Vorbereitung der documenta 12 (16. Juni bis 23. September 2007) in irgendeiner Form mitwirken, drei Leitmotive in Frageform vorgegeben. Aus den Antworten erschließt sich natürlich nicht die Ausstellung. Der durch die Fragen angestoßene Diskurs setzt vielmehr vor die Frage nach der Kunst und der Künstlerauswahl die Frage nach dem Zustand der Welt und nach der Art und Weise, wie sich die Künstler mit ihm auseinandersetzen.
Buergel, an dessen Seite die Kuratorin Ruth Noack, die auch seine Lebenspartnerin ist, und der Wiener Publizist Georg Schöllhammer („Springerin“) stehen, verfolgt damit das Ziel, die Künstler zu finden, die in und mit ihren Arbeiten auf die brennenden Fragen der Gegenwart reagieren. Ihn interessieren nicht losgelöste ästhetische Probleme, sondern konkrete Reaktionen auf die Wirklichkeit und deren Formalisierungen. Während vor 20 Jahren im Zusammenhang mit der documenta-Vorbereitung die Meinung vertreten wurde, die künstlerischen Äußerungen aus Arabien, Asien und Lateinamerika könnten nicht in den Kontext der damals propagierten „Westkunst“ gestellt werden, geht Buergel heute von der These aus, in der Zeit der Globalisierung stünden die Menschen in den Regionen der Welt vor gleichartigen Herausforderungen. Nun gehe es darum, herauszufinden, wie die Künstler das jeweilige lokale Wissen verarbeiten und die so entstandenen Arbeiten in Bezug zueinander zu setzen.
Damit verstärkt und vertieft Buergel die Ansätze, die Catherine David (documenta X) und Okwui Enwezor (Documenta 11) wählten. Ausgehend von der Frage nach der Urbanität und der städtischen Peripherien hatte David im Vorfeld ihrer Ausstellung in assoziativ-essayistischer Weise soziologische Analysen, philosophische Statements, poetische Texte und künstlerische Dokumente gesammelt. Sie wurden zur Einstimmung auf die Ausstellung in drei Zeitschriftenfolgen („documenta documents“) veröffentlicht. Fünf Jahre später organisierte Enwezor vier Plattformen, auf denen Künstler und Wissenschaftler über Demokratisierung, den Postkolonialismus und die Kreolisierung diskutierten. Enwezor und sein Team reisten rund um die Welt, um den europäisch-abendländischen Bezugsrahmen zu überwinden.
Roger Buergel geht noch einen Schritt weiter. Er transferiert seine Schlüsselfragen in die regionalen und lokalen Kunstszenen, in denen sich die Diskussion darüber verselbständigen kann und soll. Den Zugang zu diesen regionalen Kunstszenen rund um die Welt gewann er durch ein Zeitschriftenprojekt, das er zusammen mit Schöllhammer initiierte. Sie schufen ein Netzwerk, an dem über 80 Zeitschriftenredaktionen in aller Welt mitwirken. Dabei ist weniger an die Magazine im Hochglanzdruck zu denken. Vor allem in den ärmeren oder von Zensur gezeichneten Ländern wurden auch Publikationen einbezogen, die manchmal nur in hektographierter Form erscheinen. Entscheidend für die Auswahl waren nicht die Auflagen, sondern die Lebendigkeit, Kreativität und Wirksamkeit der die Zeitschriften tragenden Redaktionen. Oftmals sind die Mitarbeiter Kritiker, Künstler und Ausstellungsorganisatoren zugleich.
Buergel setzt das Ende der Moderne voraus, wenn er als erste Frage formuliert: Ist die Moderne unsere Antike? Ihm geht es dabei nicht um die Fortsetzung einer fraglichen Postmoderne-Diskussion, sondern er zielt auf das, was aus den Hoffnungen und Erwartungen beim Entstehen der Moderne geworden ist: Die Aufklärung schien der Kraft der Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen, doch der grenzenlose Drang zur Wissensvermehrung, der als Fortschritt gefeiert wurde, hatte auch die Kolonialisierung, den Faschismus und den Holocaust sowie unendlich viele andere Gewalttaten und Leiden zur Folge. So stehen wir nach Buergel vor den Trümmern der Moderne wie einst die Menschen, die die Ruinen alter Kulturen entdeckten. Allerdings ist mit der Frage keine ausschließlich pessimistische Sicht verbunden, denn in dem Zusammenbruch des Projekts der Moderne liegt die Chance zu einem neuen Anfang. Rund um die Welt, so ist die Beobachtung von Buergel und Schöllhammer, beschäftigen sich Künstler mit Aspekten, die sich aus dieser Frage ergeben. Dabei ist ihnen klar, dass der abendländische Begriff der Moderne in Afrika oder China eine völlig andere Bedeutung hat. Die vielfältigen Vorstellungen von der Moderne provozieren die unterschiedlichsten Diskussionen, die schnell ins Theologische (Islam) oder ins Technologische (China) führen können. Doch Buergel und sein Team sind zuversichtlich, dass sie durch die lokale Verortung der Diskussionen zu anschaulichen Klärungen Ergebnissen gelangen.
Das zweite Leitmotiv nimmt einen Begriff auf, den Walter Benjamin und Giorgio Agamben in die Diskussion eingeführt haben: Was ist das bloße Leben? Dahinter steht die Grundfrage nach der menschlichen Existenz, die überall verstanden wird – im Libanon, wo zum wiederholten Male Städte und Dörfer zerstört und die Menschen entwurzelt wurden, oder in den Industrieländern, wo über Nacht Tausende Arbeiter und Angestellte als Folge der Globalisierung freigestellt und in die Arbeitslosigkeit entlassen werden, oder im Kongo, wo ein Neuanfang versucht wird. Mit der Aufnahme dieser Frage stellt Buergel klar, dass für ihn die Frage nach der Kunst unauflöslich mit der Frage verbunden ist, wie Künstler auf die Bedingungen des Lebens interessieren. Aus seiner Sicht muss der, der über die heutige Kunst spricht, auch die gesellschaftlich-politischen Voraussetzungen bedenken. So wie einst für die Kunst das Verhältnis zur sichtbaren Natur prägend war, so müsse nun die Kunst in Bezug auf die Politik und deren Folgen gesehen werden.
Die dritte Frage Was tun? lenkt den Blick auf die Vermittlung und die Bildung. Damit soll einerseits daran erinnert werden, wie wichtig Bildung für das Bemühen ist, auf die beiden anderen Existenzfragen angemessen zu reagieren. Dabei sind auf den einzelnen Kontinenten und in den Ländern ganz unterschiedliche und zum Teil gegensätzliche Bildungsprobleme zu lösen. Gleichzeitig führt diese Frage zum Wesen der Kunst, mit der sich Buergel beschäftigt: Denn indem Künstler Lebensfragen aufnehmen und zu bearbeiten suchen, setzen sie einen Prozess der ästhetischen Formalisierung und Vermittlung in Gang. Die in der Ausstellung präsentierte Kunst bildet also die erste Stufe der Vermittlung.
In allen seinen bisherigen Ausstellungsprojekten hat Buergel immer auch das Machen der Ausstellung selbst im Blick gehabt und kritisch untersucht. Die Frage der Vermittlung (im Blick auf das Publikum) stellt sich für ihn nicht erst nach der Einrichtung einer Ausstellung, sondern ist für ihn ein Teil des Prozesses. So hat Buergel vor, die Arbeiten eines Künstlers in unterschiedlichen, sich selbst erklärenden Zusammenhängen zu präsentieren.
Beiträge und Ergebnisse der globalen Diskussion der 80 Zeitschriftenredaktionen und der mit ihnen verbundenen Gruppen sollen in drei im Kölner Taschen-Verlag erscheinenden Zeitschriftenheften vor Beginn der documenta 12 dokumentiert werden. Das erste Heft soll Ende dieses Jahres herauskommen.
Aus: Kunstforum, Band 182

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