Leben entwickelt sich dort, wo es nicht zu vermuten ist

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Als Rolf Escher 1968 seine ersten Radierungen schuf, die als Vorläufer für sein späteres Werk zu gelten haben, war die Frage nach seinem Verhältnis zur Realität kein Thema. Aber schon drei Jahre später hatte er seine malerisch geprägte Grundhaltung mit ihren flächigen, stilisierten Formen aufgegeben. Nun arbeitete Escher an stilllebenhaften Motiven, die sich an der Wirklichkeit orientierten, ohne sich an sie zu binden. Frühzeitig hatte Escher ein Gefühl dafür entwickelt, wie er die in der Realität gefundenen Formen studieren und notieren muss, um sich dann von ihnen frei machen und ihnen jene Wirklichkeit entgegen setzen zu können, deren Bild er in sich trug. So wurde für ihn die Realität mit ihren Erscheinungen zur gestaltbaren Masse, deren Bild er von Studie zu Studie umformte, bis er schließlich seine eigene Welt schaffen und inszenieren konnte.

Sehr frühzeitig gab sich mithin Escher als ein Künstler zu erkennen, der in der detailbesessenen Auseinandersetzung mit der Realität seine Sprache fand, die mit dem Schlagwort „magischer Realismus“ nur unzureichend zu umreissen ist. Vor allem entpuppte sich der Grafiker, der zusehends auch zum Zeichner wurde, als ein Erzähler, der über die souveräne Kraft verfügte, den Szenen Leben einzuhauchen. und ihnen unerwartete Wendungen zu geben. Wie schon 1972 im „Emporkömmling“ ein Käfer, der eine Kommodenplatte zu erreichen suchte, das vorgegebene Stillleben sprengte, so entwickelte er ein Jahr später unter dem Titel „Die Verwandlung“ eine Radierfolge, die sich den traditionellen Kategorisierungen entzieht. Vor allem ist die Serie keine Folge von Illustrationen zu Franz Kafkas gleichnamiger Erzählung. Die Ätzradierungen nehmen sie zum Anlass, folgen ihr über ein paar Stationen, gehen dann aber ihren eigenen Weg. Die denkwürdige Geschichte des Gregor Samsa nahm der Grafiker zum Vorwand, um seine Vision von dem Käfer zu erzählen, der in der vertrauten Welt der Menschen mal Opfer, mal Triumphator ist.

1976 entstand erneut ein Mappenwerk, das von einer Geschichte erzählt, in der sich Mensch und Tier in die Quere kommen: „Versuche, einen Krebs zu begreifen“. Die Serie, die auch eine erste reflektierende Auseinandersetzung mit der eigenen grafischen Arbeit enthält, stellte das Stillebenmotiv als quicklebendiges Wesen vor, das ertastet, gefühlt und gepackt werden muss. Die nature morte hatte sich ihrer Bestimmung entzogen, die Käfer, Krebse und Hummer wurden zeitweise zu den Herrschern der Stillebenwelt, kurz, das Leben entwickelte sich dort, wo es nicht zu vermuten ist. Aber diese Vitalisierung erschien im Nachhinein wie ein Exkurs. Die Tiere erstarrten später wieder, wurden erneut zur Staffage oder (wie die Hummer und Krebse) zur potentiellen Mahlzeit. Schließlich waren sie für einige Zeit im Escherschen Werk fast vergessen, bis sie sich in jüngster Zeit wieder meldeten – als Eindringlinge und Gegenspieler der Menschen. Aus seiner frühen Schaffensphase nimmt Escher wieder Motive auf und verbindet sie mit seinen neuen Erlebnisräumen.

In der Lithographie „Tisch mit Krebs“ (1988) wirkt das vordere Tier mit seinen Augen, Fühlern und Zangen zwar so, als wäre es bereit, den Kampf aufzunehmen. Aber in diesem Bild ist es zur Mahlzeit bestimmt, liegt auf dem Teller und ist Teil des Stilllebens. Doch fünf Jahre später wandelt sich die Situation. In der Radierung „Cafe´ in Nancy“, in der man vor dem Fenster die Schattenumrisse einiger Menschen erkennt, liegt vorn auf dem Tisch, groß und breit, mit hochgestreckten Fühlern und mit mächtigem Schatten, ein Hummer. Aus dem Inventar ist ein Wesen geworden, das sein Eigenleben führt. Das setzt sich 1994 in der kleinen Radierung „Später Besuch“ (Bibliothek) fort, in der auf einem Tisch ein Käfer lauert, dessen Fühler so ausgerichtet sind, dass sie einen in der Ferne sitzenden einzelnen Leser einschließen. Das Bild von dem einer Kathedrale ähnlichen Bibliothekssaal mit seinen Säulen und hohen Bögen kippt ins Phantastische und Absurde. Der unter der Tischlampe ruhende Käfer wird zum Herrscher des Saales und damit zum Herrscher des Bildes. Unversehens hat sich der in einen Käfer verwandelte Gregor Samsa zurückgemeldet, denn die Nähe zu dem Bild 3 der Serie „Die Verwandlung“ ist unverkennbar.

Der Zeichner und Grafiker Rolf Escher ist kein Surrealist. Er gehört nicht zu denjenigen, die ihre Bilder aus den Träumen oder dem Unbewussten holen. Nein, er geht den entgegen gesetzten Weg. Er sucht Orte und Räume auf, die ihm in ihrer Fremdheit und Kuriosität vertraut erscheinen. Er studiert sie, tastet sich an ihre Strukturen heran, um sie dann nach seinem Bilde umzuformen und mit Requisiten aus seinem eigenen Vorrat zu besetzen und umzudeuten. Escher bereichert die Räume durch Anekdoten und stößt damit Geschichten an, die unsere Phantasie vollenden muss.

So ist in den letzten Jahren eine Reihe von Blättern entstanden, die dazu verleiten, jene absurde Geschichte auszuspinnen, die davon erzählt, dass die Menschen das Lesen verlernt und die Bücher in den Bibliotheken aufgegeben hätten und dass nun die Käfer und Hummer zu Ordnern und Wächtern der Literatur geworden seien. Ein Musterbeispiel dafür ist Rolf Eschers Umgang mit dem zweigeschossigen Lesesaal in der Bibliothek von Barcelona. Am Anfang stehen drei Bleistiftstudien, denen 1994 eine Lithographie folgt: Aufgereiht wie die Stühle zur Linken und die Tischlampen in der Mitte des lang gestreckten Lesetisches sitzen die nur skizzenhaft dargestellten Männer , die nach hinten zu bloßen Schatten werden. Bereits in dieser Fassung wendet sich die Darstellung des Bibliothekssaals ins Magische, da der dichten, fast militärischen Reihung der Leser auf der einen Seite auf der anderen die Leere entgegen gesetzt ist. Aber es ist nicht so, dass an der nun leeren Seite keine Menschen gesessen hätten. Aufgeschlagene Bücher und herumliegende Notizzettel weisen auf rege Lesetätigkeit hin.

Als Rolf Escher dann vier Jahre später die Lithographie „Die Wächter“ schuf, die die Grundstruktur der früheren Arbeit übernimmt, verwandelt er nicht nur die Architektur des Raumes und die Form der Lampen, sondern setzt er der denkbaren Wirklichkeit eine Vision gegenüber: Nun sitzen keine schattenhaften Männer mehr da, sondern ruhen breit und selbstbewusst Hummer auf dem Lesetisch – in gleicher Weise aufgereiht wie die Lampen über ihnen oder die Leser vor ihnen. Aus dem beidseitig nutzbaren Tisch ist ein nun ein langes Lesepult geworden, auf dem ansonsten viele fliegende Blätter und Blocks und Brillen liegen. Wachen die Meerestiere über die Tische und Bücher, solange die Menschen verschwunden oder nachdem sie ausgezogen sind?

Aber damit ist die Invasion der krabbelnden und kriechenden Tiere nicht überstanden. In einer jüngeren Federzeichnung lässt Escher sie zu viert eine schön geschwungene Treppe herunter kommen. Und in einer braun getönten Tuschezeichnung erklimmen die Käfer, von denen einige nur bruchstückhaft ausgeführt sind, Bücherregale, in denen die Bücher angekettet sind. Die Welt scheint hier regelrecht in ein Chaos zu stürzen, denn die Käfer kennen keine Grenzen mehr – weder in ihrem eigenen Wachstum noch bei der Eroberung der Bibliotheken. Die literarischen Geschöpfe schwingen sich zu den Verwaltern der Literatur auf. Die Bücher müssen ihr Schicksal still erdulden, da sie unbarmherzig (und für unsere heutigen Augen befremdend) in Ketten liegen.

Rolf Escher ist ein Zeichner, der mit dem Material spielt, das er entdeckt hat und liebt. Er hat sich nie mit der bloßen Realität begnügt, sondern hat immer in den Räumen und Dingen auch ihre ganz anderen Möglichkeiten gesucht und hat sie mit seinem Zeichenstift solange gedreht und gewendet, bis sie in sich verborgene Geschichten freigaben. Dafür steht auch die Reihe der Kiosk-Bilder, die Escher von seinen Italien-Exkursionen mitgebracht hat. Jeder dieser Zeitungs-Kioske aus Parma und Venedig ist in seiner altmodischen Fin-de siecle-Art ein Schmuckstück. Seit langem schon reizt es Escher, in seine Stillleben (vorzüglich die Bilder mit vollgestopften Kommoden) Zeitungen und damit Schriftbilder einzubeziehen. Die Kiosk-Kompositionen verführen natürlich auch dazu. Doch ließ Escher in der Radierung „Gazetta die Parma“ (1988) seiner Phantasie freien Lauf: Die außen an dem Kiosk angebrachten Zeitungen rutschen und fliegen davon, sie überschwemmen den Platz und sprengen mit ihren Schriftgrößen alle Dimensionen.

Die fliegenden Blätter, Zeitungen und Bücher sind in den letzten Jahren zu einem wiederkehrenden Motiv in Eschers Werk geworden. Vergleichsweise harmlos wirkt noch, wenn in der erwähnten Lithographie „Die Wächter“ Blätter auf dem Tisch anscheinend wahllos herumliegen und einige auf die Stühle oder den Boden fliegen. In der kleinen Radierung „Schwieriger Abflug“ (1999), in der ein Käfer die gepolsterte Lehne eines Stuhles zu erklimmen sucht, liegen auf dem Sitz vier dicke und ehrwürdige Bücher. Unten auf dem Boden sind aber neben dem kräftigen Schatten des Stuhles, der mit seinen vorderen Beinen über den Bildrand hinaus ragt, drei aufgeschlagene Bücher zu erkennen. Sie sind zwar immateriell, also nur skizzenhaft angedeutet, doch ist unmißverständlich zu sehen, dass sie nicht Überbleibsel eines Leseabenteuers sind, sondern Zeugnisse einer aus den Fugen geratenen Ordnung. Während in der Radierung „Kleine häusliche Bibliothek“ (1998) die unten mit Schuhen und oben mit Büchern vollgestopfte Kommode noch eindeutig von den menschlichen Spuren geprägt ist, sind die Bücher in „Schwieriger Abflug“ von den Menschen verlassen.

Seine Chaos-Vision radikalisiert hat Escher in der Zeichnung „Büchersturz in London“, in der er in den runden Saal der British Library einen wahren Bücherregen von der Decke niedergehen lässt. Der Alptraum jedes Bibliothekars wird in diesem Saal Realität, für dessen Schönheit man erst einmal keinen Blick mehr hat. Und der Titel „Büchersturz“ lässt in Anspielung auf den Fenstersturz natürlich an einen Gewaltakt denken.

Das heißt, dass der Eindruck, Escher sei ein bloßer Chronist, der durch die Welt reist, um für uns die Bilder von alten Schönheiten und Kuriositäten einzusammeln, täuscht. Escher reist mit großem Gepäck, sein Inventar und seine Hausgenossen begleiten ihn. Er studiert mit ihnen auf den gefundenen Bühnen Stücke ein, für die er die vorhandenen Kulissen nutzt, aber die Themen vorgibt. Diese Inszenierungen sind nicht aufdringlich. Manche passen sich den Örtlichkeiten so sehr an, dass man die Eingriffe gar nicht spürt. In anderen nimmt er nur leichte Korrekturen vor oder verändert die Maßstäbe. Aber erst in Blättern wie dem „Büchersturz in London“ setzt er so unübersehbare Akzente, dass die Wirklichkeit in der phantastischen Vision vollends aufgeht.
Aus: Rolf Escher: Bücherzeiten, Herne 2000

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