„Und du bist auch hier“

Bei Fritz Schweglers Grabmonument am Blauen See

Eigentlich ist es zu viel gesagt, wenn ich diesen Ort als meinen Lieblingsplatz bezeichne. Mehr als zwei oder drei Mal im Jahr komme ich da nicht hin. Aber wenn ich, gleich, wo ich bin, an einen Platz denke, an dem die Zeit aufgehoben ist und an dem die Widersprüche zwischen Leben und Tod sowie Kunst und Natur außer Kraft gesetzt werden, dann sehe ich diesen Punkt vor mir.
Wie in einem Urwald scheint die Natur sich selbst überlassen zu sein. Den Weg, der auf die Anhöhe führt, erkennt der Fremde kaum, weil die Sträucher und Bäume ihre Äste ausgebreitet haben und ein umgestürzter Stamm eine Barriere bildet. Erst allmählich wird oben ein Monument sichtbar, ein Sarkophag mit barocken Wülsten. Unwillkürlich denkt man an die Grabgelege in den Domen.
Hat man das Glück, an einem Tag dorthin zu kommen, an dem nur wenige Menschen in dem Waldstück unterwegs sind, dann kann man in vollen Zügen jene romantische Sehnsucht genießen, die im 18. und 19. Jahrhundert Landschaftsarchitekten dazu brachte, Parks als natürlich scheinende Orte zu gestalten, in denen sich Leben und Tod auf sanfte Weise begegnen. Harry Kramer hatte diese sinnstiftende Gestaltung vor Augen, als er in den 80er-Jahren die Idee für die Künstler-Nekropole im Habichtswald entwickelte. Im Bergpark Wilhelmshöhe hatten ihn die Schein-Grabmonumente bestärkt, seinen Weg zu gehen.

Von allen bisher realisierten Monumenten in der Nekropole kommt der 1993 Sarkophag des Künstlers Fritz Schwegler (Jahrgang 1935) den Vorbildern am nächsten. Von weitem schon erkennt man seine Bestimmung. Und obwohl dieses Werk nur im 20. Jahrhundert so geschaffen werden konnte, entfernt es sich aus dem Zeitbezug. Der Sarkophag gehört an diesen Ort. Der Wald hat ihn angenommen und mit seinem Laubwerk eingesponnen. Unvergesslich, wie in einem Winter sich der schwere Ast eines Baumes wie zum Ausruhen auf den Sarkophag gelehnt hatte.
Das Monument steht selbstbewusst auf der Anhöhe, von der der Blick hinuntergeht auf den Blauen See, in dessen ruhigen Wasser sich der Himmel und die Bäume spiegeln. Stille und herbe Schönheit umfangen den Besucher. Die urwüchsige Natur ist es, die anzieht. Und dann ist es natürlich der geglückte Versuch, in den Wald Zeichen der Kunst und des Todes zu setzen, der lockt. Aber es ist keine Todessehnsucht, die mich dorthin treibt. Eher ist es die Vergegenwärtigung der Begegnungen mit Schwegler – in Kassel, wo er 1972 Gast der documenta war, und in Düsseldorf, wo er an der Akademie lehrte. Schwegler ist ein Künstler-Poet, dessen Werk etwas Wundersames und Rätselhaftes anhaftet.

Liebenswert waren seine Auftritte im Fridericianum während der documenta 5: Vor einer Handvoll Zuschauer spielte er auf einer Flöte und trug im Singsang Texte vor, die verzauberten, die ich nicht unbedingt verstand. Dazu hielt er wie ein Bänkelsänger Bildtafeln hoch, deren Zeichnungen die gleiche poetische Rätselhaftigkeit zu eigen war. Fritz Schwegler hat sich in seine eigene Welt vergraben, in deren fantastischen und surrealen Bildern und Texten sich unsere Welt und die Vorstellungen von ihr spiegeln.

In der Idylle, inmitten des Blätterrauschens und des Vogelgezwitschers, höre ich Schwegler wieder seinen Sprechgesang vortragen. Aber auch hier, auf dem Sarkophag, spricht er zu denen, die den Weg dorthin gefunden haben. „Lebensmüde? – Abulvenz!“ ist auf der einen Seite lesen. Lebensmüde? Nein, aber was heißt Abulvenz? Schon sind wir in das Rätselspiel von Schwegler einbezogen. Lösen können wir das so ohne weiteres nicht.
Da kommen die zwei Zeilen auf der anderen Seite uns schon näher: „Weiszt du weil ich hier bin – und du bist auch hier“. Das sind Worte wie aus einer versunkenen Welt. Sie beschreiben genau das, was dieser Ort bewirkt: Weil ich hier bin, bis du auch hier. Nur: Noch ist Schwegler nicht hier, sondern nur sein Grabmonument.
Aus: Kassel – Wo es am schönsten ist, B&S Verlag, Berlin, 2004

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