Zur Halbzeit der Documenta 11: Die Ausstellung ermöglicht vielfältige Erfahrungen und Diskussionen
Eine Momentaufnahme vom Kasseler IC-Bahnhof in Wilhelmshöhe. Da warten auf dem Bahnsteig zwei Männer und eine Frau auf den Zug in Richtung Frankfurt. Sie sind ins Gespräch vertieft. Plötzlich holt der jüngere Mann aus seinem Rucksack den blauen Kurzführer zur Documenta 11 , um seine Argumentation zu stützen. Sie diskutieren lebhaft über die Ausstellung noch beim Einsteigen. * Anfangs wirkte der Plan wie eine Schnapsidee: Zwischen der Orangerie als dem Verbindungsort zum Ausstellungszentrum und dem neuen Standort in der ehemaligen Binding-Brauerei sollte nach den Vorstellungen von documenta-Geschäftsführer Bernd Leifeld auf der Fulda ein kleines Fahrgastschiff verkehren. Kassel spielt Klein-Venedig, und niemand macht mit, weil man von den 20 Minuten Fahrtzeit zehn in der Schleuse verbringt? Von wegen. Bis gestern haben 20000 Besucher der Documenta 11 ein Ticket für das Schiff Forelle gelöst und auf diese Weise Kassel völlig anders erlebt. * Die neue, völlig andere Positionierung in der Stadt, das ist heute schon sicher, wird zu einer bleibenden Erinnerung an die Documenta 11. Dabei ist als Grundvoraussetzung wichtig, dass die Erweiterung über das Stadtzentrum hinaus von den Besuchern angenommen wird, weil der Zubringerdienst (vor allem mit den Bussen) funktioniert und weil in den Brauerei-Hallen so viel und so Wesentliches zu sehen ist, dass kein ernsthafter Besucher sie auslassen darf. Damit ist erstmals das Fridericianum nicht das Zentrum. Aber nicht nur die Flächen-Dimensionen machen den hinzugekommenen Standort attraktiv. Es sind vor allem die großzügigen Künstlerräume, die für eine neue Qualität sorgen. * Das sind insgesamt günstige Voraussetzungen für das Funktionieren der Documenta 11, die wie keine Kasseler Ausstellung zuvor den Wirklichkeitsbezug der Kunst so sehr in den Mittelpunkt rückt. Dabei ist es nicht die im traditionellen Sinne realistische Kunst, die den Ton angibt. Die spielt nahezu keine Rolle. Stattdessen haben Okwui Enwezor und sein Team sehr stark auf die Medien gesetzt, denen der direkte Bezug zur Welt eigen ist Fotografie, Video, Film und die objektbezogene Rauminstallation. Dennoch geht es in diesen Arbeiten nicht um eine simple Abbildung der Wirklichkeit. Vielmehr erlebt man äußerst unterschiedliche, oftmals poetische und erzählerische Zugangsweisen. Auf diese Weise projizieren diese Arbeiten immer mehr als nur die Probleme, mit denen sie sich auseinander setzen. * Über die Kunst gelangt man zu den Fragen der Welt. Dadurch gewinnen die künstlerischen Arbeiten etwas Zwingendes. Das bedeutet umgekehrt aber nicht, dass die Documenta 11 den Blick auf die rein künstlerischen Problemstellungen vernachlässigt hätte: Das beste Beispiel dafür ist Ivan Kozaric, der sein gesamtes Atelier und damit seinen Vorrat an Ideen und Formen nach Kassel gebracht hat. Vor seinen Bildern und Skulpturen kann man gut und gerne die Kunstentwicklung im 20. Jahrhundert umfassend diskutieren. * Die Documenta 11 regt zu vielfältigen inhaltlichen Gesprächen über das an, was unsere Welt bestimmt. Zeigt sie also nur Problematisches und Bedrückendes? Keineswegs. Die Arbeiten in der Karlsaue, allen voran der Park im Park von Dominique Gonzalez-Foerster, beschwören die heitere und schöne Seite. Und die Architektur-Visionen von Bodys Isek Kingelez ermutigen zu einer unbekümmerten Zuversicht.
HNA 27. 7. 2002