Von Kaiserringen, Brockenhexen…

Von Kaiserringen, Brockenhexen, bösen Buben und gelehrten Leuten
Das Land zwischen Goslar und Göttingen (Leseprobe)

Ein sonniger Herbsttag. Im üppig ausgemalten Kaisersaal der über 900 Jahre alten Pfalz von Goslar hat sich der Rat der Stadt – gemeinsam mit einer Vielzahl von Ehrengästen – zu seiner jährlichen feierlichen Sondersitzung versammelt. Es gilt, einen Künstler mit dem Kaiserring zu ehren. Gestiftet wurde 1975 der Ring in Erinnerung an Kaiser Heinrich III. (1017 – 1056), der mehr als 20 mal mit seinem Gefolge in Goslar Station machte und aus tiefer Verbundenheit mit der Stadt in ihr sein Herz bestatten ließ, das heute in der St. Ulrichskapelle der Pfalz ruht.

Doch in der Feierstunde des Rates ist der Geist des mittelalterlichen Kaisers kaum zu erahnen. Das hat damit zu tun, daß die einstmals freie Reichsstadt im 16. Jahrhundert ihre Macht und ihren Reichtum einbüßte und infolgedessen teilweise verfiel. Die Pfalz wurde zur Ruine und die von Heinrich gegründete Stiftskirche St. Simon und Judas, die unmittelbar vor der Pfalz stand und Dom genannt wurde, ist im 19. Jahrhundert auf Abbruch verkauft worden. Viel präsenter ist ein anderer Kaiser, der Hohenzoller (und Preuße) Wilhelm I. Er scheint auf seinem Pferd aus dem monumentalen Bild, das Hermann Wislicenus zum Ruhme des neuen Reiches vor 120 Jahren schuf, direkt in den Saal hineinzureiten. Vor diesem verklärenden Huldigungsbild steht nun, asketisch mit Hut, Joseph Beuys, der als erster avantgardistischer Künstler in die Reihe der prominenten Kaiserringpreisträger aufgenommen wird. Wir schreiben das Jahr 1979, und der damals noch heftig umstrittene Beuys wird von der traditionsverbundenen Goslarer Bürgerschaft mit Anstand gefeiert.

Tausendjährige Städte und Kultur. Aber der Humus, auf dem die Denkmal- und Traditionspflege gedeihen, sind kaum mehr als 100 Jahre alt. Nichts könnte die Brüche, Widersprüche und die Versuche, sie zu überwinden, besser sichtbar als die eingangs beschriebene Szene. Die mittelalterliche Stadt, die wir heute sehnsuchtsvoll suchen, ist oft nur ruinenhaft überliefert. Weitgehend ist sie eine Rekonstruktion des 19. und 20. Jahrhunderts, entstanden aus dem Geist der Romantik und des Historismus und herausgeputzt in den kräftigen Farben unserer Zeit. Und da wie im Falle Goslars auch die wirtschaftliche Grundlage, die einst die Stadt bedeutend machte, Geschichte ist, können solche Innenstädte leicht zu bloßen Kulissen oder Puppenstuben werden, wenn nicht jenseits der Besinnung auf das Überlieferte zeitgemäße Inhalte gefunden werden.

Die Idee der Goslarer Bürger (allen voran Th. K. P. Schenning), mit der Stiftung des Kaiserrings einen Bogen vom Mittelalter in die Gegenwart zu schlagen, war gewagt, ist aber gelungen, zumal durch die Preisverleihung einmal im Jahr Goslar zur aktuellen Kunstadresse wird und es dank der Preisträger im Stadtgebiet sowie im Mönchehaus-Museum auf Dauer installierte Kunstwerke gibt. Auf einen ähnlichen Weg begab sich das im Leinebergland zwischen Harz und Solling liegende Städtchen Bad Gandersheim, das sich der Nonne Roswitha besann, die im 10. Jahrhundert im dortigen Stift lateinische Dramen und Erzählungen verfaßte. Im Namen Roswithas werden jährlich eine Schauspielerin, die bei den Gandersheimer Domfestspielen mitwirkt, sowie eine Dichterin geehrt. Auch die jährlich im Juni veranstalteten Festspiele, die das romanische Domportal als Kulisse nutzen, sind als eine Erinnerung an Roswitha von Gandersheim zu verstehen.

Etwas von dem Geist jener Zeit wiederzubeleben, in der die Kaiserpfalzen, Residenzen und Klöster den kleinen Städten zu Glanz, Ansehen und Macht verhalfen, ist heute das erklärte Ziel der kommunalen Verwaltungen und Fremdenverkehrsverbände. So bilden die erhaltenen Dome, Schlösser und Fachwerkzeilen das Kapital, mit dem sie wuchern können. Dabei sind, so widersprüchlich es klingt, Städte wie Goslar, Wernigerode, Duderstadt, Einbeck oder Bad Gandersheim besonders gut dran, weil sie zwischendurch zeitweise in Vergessenheit gerieten, zur Bedeutungslosigkeit herabsanken oder einfach den großen Sprung ins industrielle Zeitalter nicht mitvollziehen konnten. Das führte zwar einerseits zum starken Verfall, verhinderte aber andererseits, daß Verkehrsschneisen in die Altstädte geschlagen wurden und daß Neubauten die jahrhundertealten Häuser verdrängten.

Heinrich Heine, der scharfsinnige Kritiker und zum Spott neigende Dichter, war 26 Jahre alt, als er 1824 von Göttingen seine „Harzreise“ unternahm und dabei schrieb: „…Der Name Goslar klingt so erfreulich, und es knüpfen sich daran so viele uralte Kaisererinnerungen, daß ich eine imposante, stattliche Stadt erwartete. Aber so geht es, wenn man die Berühmtheiten in der
Nähe sieht! Ich fand ein Nest mit meistens schmalen, labyrinthisch krummen Straßen, allwo mittendurch ein kleines Wasser, wahrscheinlich die Gose, fließt, verfallen und dumpfig, und ein Pflaster so holprig wie Berliner Hexameter…“

Heines Bemerkungen über den Verfall mögen zutreffend gewesen sein, doch die „schmalen, labyrinthisch krummen Straßen“, über die er sich lustig macht, sind es ja gerade, die für uns, die wir auf Autobahnen, Schnellstraßen und ICE-Strecken anreisen, den Liebreiz ausmachen. Wir mußten erst den Verlust der gewachsenen Stadtstrukturen und der Geborgenheit in wechselnden Straßenfluchten erleiden, um eine neue Beziehung zum alten Bauen zu gewinnen.

Wer den Versuch unternehmen wollte, zwischen Weser, Werra, Bode, Oker und Leine alle alten und stolzen Fachwerkhäuser aufzusuchen, würde sich hoffnungslos verlieren. Auch ist oftmals das, was die Denkmalpfleger geadelt und die Restauratoren herausgeputzt haben, im Detail unbedingt sehenswert, aber hart bedrängt von unpassenden Nachbarhäusern oder verunstaltet von Ladenketten, die sich in den Innenstädten breit machen. Meist sind es die Straßen und Plätze rund um das Rathaus und die Hauptkirche, wo sich die Fachwerkperlen konzentrieren. Doch da diese Zonen fast überall in gleicher Weise in Fußgängerbereiche verwandelt und von gleichartigen Geschäften besetzt wurden, werden diese Fachwerkstädte schnell austauschbar – es sei denn, sie verfügten auch jenseits dieser Altstadtkerne über intakte Strukturen. Genau das gibt es rund um den Harz gleich mehrfach: Goslar, Wernigerode, Quedlinburg, Duderstadt und Einbeck sind Städte mit durch die Jahrhunderte kaum veränderten Häuserzeilen. Dabei spielt es für die Besucher gar keine Rolle, ob sie 400 Fachwerkhäuser (Einbeck) oder 1000 unter Denkmalschutz stehende Bauten (Goslar) vorfinden. Entscheidend ist das Ensemble, das Bild des Ganzen – das oftmals außerhalb der Einkaufsmeile stimmiger ist als dort, wo Boutiquen und Souvenirläden zum Bummel einladen…
Aus: Dirk und Kersti Schwarze: Kulturrouten Niedersachsen – Region Harz, Weser- und Leinebergland, L&H Verlag, 2000, S. 15ff.

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