KASSEL So frühzeitig vor dem Ausstellungstermin stand bisher kein künstlerischer Leiter der documenta fest. Der in Amerika lebende Kritiker und Kurator Okwui Enwezor hat dreieinhalb Jahre Zeit, um sein Konzept für die documenta XI zu entwickeln und umzusetzen. Wie er gestern in der Pressekonferenz unmittelbar nach seiner Berufung durch den Aufsichtsrat andeutete, wird er wahrscheinlich ein Team aus mehreren Kuratoren bilden. Zu seinen inhaltlichen Vorstellungen wollte er noch nichts sagen.
Der Ausstellungskurator machte allerdings deutlich, daß auch er die documenta in Kassel als ein 100-Tage-Ereignis begreife. Zwar könne er jetzt noch nicht erklären, ob er einen ähnlichen Diskussionsprozeß wie die Reihe „100 Tage – 100 Gäste“, die als eine der Attraktionen der vorigen documenta galt, anstoßen werde, doch könne er sich ähnliche Veranstaltungen vorstellen. Auf jeden Fall werde jeden Tag etwas passieren. Enwezor glaubt, daß es 1997 zwischen der documenta von Catherine David und seiner Biennale gewisse Korrespondenzen gegeben habe, doch seien die jeweiligen Zusammenhänge sehr verschieden gewesen. Deshalb ist er auch bei allem Respekt für die vorige documenta der Überzeugung, daß die documenta XI ganz anders sein wird.
Der neue künstlerische Leiter unterstrich, daß er die interdisziplinäre Arbeit bevorzuge. Dabei gehe es ihm immer wieder darum, nationale und kulturelle Barrieren zu überwinden und neue Wege zu finden, um mit Hilfe der Kunst die Moderne zu reflektieren und die Kunst im Verhältnis zum Ort sichtbar zu machen.
Als ein aus Afrika stammender Ausstellungsmacher sieht er sich keinesfalls in der Rolle, nun die documenta zum Forum für die afrikanische Kunst zu machen. Die in der Vergangenheit in Kassel geführte Debatte, wie man mit der Kunst der sogenannten Dritten Welt umgehen solle, interessiert ihn nicht. Er blickt auf die Kunstszene aus einer internationalen Perspektive – in der allerdings Afrika auch seinen Platz hat.
Der documenta-Aufsichtsrat hatte gestern nachmittag Okwui Enwezor einstimmig zum künstlerischen Leiter der documenta XI berufen. Er folgte damit dem ebenfalls einstimmigen Votum der achtköpfigen internationalen Findungskommission, die seit April insgesamt an drei Wochenenden in Kassel, Luxemburg und Berlin getagt hat. Nach Berlin hatte, wie documenta-Geschäftsführer Bernd Leifeld berichtete, die Findungskommission fünf von ihr selbst ausgesuchte Kandidaten eingeladen. In einer zweiten Runde waren von denen dann drei noch zu einem zweiten Gespräch gebeten worden, bevor die Entscheidung für Enwezor fiel. Kassels Oberbürgermeister Georg Lewandowski dankte als Vorsitzender des documenta-Aufsichtsrates der Findungskommission für ihre zielgerichtete und konzentrierte Arbeit.
Als Sprecherin der Kommission erklärte die Niederländerin Saskia Bos, man habe sich für Enwezor entschieden, weil er den Blick von außen auf die europäische Kunst mitbringe und somit einen wirklichen Dialog der Kunst einleiten könne. Enwezor verfüge über ausgezeichneten Kenntnisse der zeitgenössischen Kunst und habe gezeigt, daß er gute Strategien für die Vermittlung zum Publikum entwickeln könne.
Auch die hessische Kunstministerin Christine Hohmann-Dennhardt sieht es als einen besonderen Vorzug an, daß Enwezor mit dem doppelten Blick zweier Kontinente (Afrika und Amerika) auf Europa schauen könne und von dort wieder in die Welt zurück. Sie sieht in der Wahl des neuen künstlerischen Leiters der documenta ein in die Zukunft gerichtetes Zeichen für die Kasseler Ausstellung.
HNA 27. 10 1998
Eher durch Zufall zur Kunst gekommen
Okwui Enwezor ist drei Tage vor seiner Berufung zum künstlerischen Leiter der documenta XI (8. Juni bis 15. September 2002) 35 Jahre alt geworden. Dem documenta-Publikum ist er durch das Programm „100 Tage – 100 Gäste“ bekannt, in dessen Rahmen er über die zweite Johannesburg-Biennale berichtete, die Ende 1997 in Südafrika stattfand. Enwezor ist in Nigeria geboren. 1982 ging er in die USA, um dort unter anderem Politik und Literatur zu studieren. Mittlerweile ist er amerikanischer Staatsbürger. Er lebte lange Zeit in New York und arbeitet jetzt in Chicago an einem historischen Ausstellungsprojekt über Unabhängigkeitsbewegungen.
Okwui Enwezor hat sich als Lyriker, Literaturkritiker und Essayist einen Namen gemacht, bevor er eher zufällig zur Beschäftigung mit Kunst kam. Seit 1989 hat er verschiedene Ausstellungsprojekte als Kurator verantwortet, wobei die Johannesburg-Biennale mit ihren mehr als 160 Künstlern aus 63 Ländern sein bisher größtes Unternehmen war. Für die Ausrichtung der Biennale hatte er sechs Kuratoren aus unterschiedlichen Kontinenten verpflichtet. In Zusammenarbeit mit dem Africana Studies Center der Cornell University in New York hat Enwezor das Magazin „Nka“, eine Zeitschrift für zeitgenössische afrikanische Kunst, gegründet. Außerdem hat er am New Yorker Guggenheim Museum eine Ausstellung für afrikanische Fotografie verantwortet. Zahlreiche seiner Projekte hat er in Kooperation mit Octavio Zaya geplant. Nachdem Enwezor in diesem Jahr eine Ausstellung für ein Museum in Mexiko vorbereitet hatte, ist er im kommenden Jahr an Vorhaben in New York (Konzeptkunst) und Schweden beteiligt.
HNA 27. 10. 98
Kommentar: Auf zu neuen Ufern
Die Überraschung ist perfekt. Alle kleindeutschen, man auch auch sagen: klein-europäischen, Spekulationen erwiesen sich als falsch. Die international zusammengesetzte Findungskommission bestätigte die Kasseler documenta in ihrer Rolle als Weltereignis und verhalf ihr damit gleichzeitig zu einem Aufbruch zu neuen Ufern.
Unabhängig von der Frage, wie in mehr als drei Jahren das Konzept von Okwui Enwezor aussehen wird, ist seine Berufung zum künstlerischen Leiter erst einmal ein kulturpolitisches Signal, dessen Wirkung und Tragweite wir im Moment kaum abschätzen können. Wer das Wort von der Globalisierung ernst meint und es nicht nur als ein Schlüsselwort für die einseitige Eroberung fremder Märkte versteht, der kann dieser Wahl hoffnungsfroh zustimmen. Der Dialog der Kulturen, den Catherine David mit ihrer documenta-Reihe „100 Tage – 100 Gäste“ vorsichtig einleitete, kann nun Grundlage für das Ausstellungskonzept werden.
Erstmals steht an der Spitze der Kasseler Kunstschau ein Nicht-Europäer – und zwar ein Amerikaner, dessen Biographie kräftige Wurzeln in Afrika hat. Der Kontinent, dessen Kunst lange Zeit nicht als dialogfähig für die Westkunst bezeichnet wurde, kommt nun aktiv mit in das documenta-Boot.
Okwui Enwezor ist viel zu amerikanisch und viel zu gut informiert, als daß er nun den Spieß umdrehen und die documenta zu einem Forum der Kunst aus Afrika und Asien machen würde. Aber erstmals hat jemand in Kassel das Sagen, für den die europäischen Künstler nicht die Erstgeborenen sind.
Allein dieser Aspekt ist so vielversprechend und spannend, daß man keine Angst haben muß, die nächste documenta könnte im Ausstellungsbetrieb untergehen.
HNA 27. 10. 1998