Die Universität Kassel und die Neuerfindung der Stadt

Ist Kassel, wie die Stadt gelegentlich gern für sich in Anspruch nimmt, ein Ort der Aufklärung? Das Selbstbild kann nicht ganz falsch sein, wenn man bedenkt, dass der frühere Direktor der Kunsthalle Hamburg, Werner Hofmann, als ein Spezialist für die Kunst und Kultur um 1800 Kassel und dem Land Hessen empfahl, ein Museum der Aufklärung aufzubauen. Dies hätte seinen idealen Platz im Museum Fridericianum haben sollen, das 1779 als das erste für die Öffentlichkeit errichtete Museum auf dem europäischen Kontinent eröffnet wurde. Hofmanns Anregung wurde jedoch nie ernsthaft weiter verfolgt, auch deshalb nicht, weil das Fridericianum seit 1955 das Stammhaus der documenta ist, die ihrerseits ein Instrument der Aufklärung ist. Das gilt insbesondere für die kommende Ausstellung, die Roger Buergel aus dem Aspekt der Vermittlung inszenieren will.

Blicken wir in die Geschichte, dann stellen wir fest, dass Kassel als Hauptstadt der Landgrafschaft Hessen vor 230 Jahren tatsächlich ein Ort der Aufklärung war. Die Stadt erlebte in den 70er-Jahren des 18. Jahrhunderts einen bildungspolitischen Aufbruch: Das 1709 gegründete Collegium Carolinum, das so etwas wie eine Universitäts-Vorschule war, wurde reformiert und es wurden Persönlichkeiten wie der Naturforscher Georg Forster und der Anatom Samuel Thomas Soemmerring berufen; die Kunstakademie wurde 1777 gegründet, und 1779 kamen das Lyceum Fridericianum mit einem angegliederten Lehrerseminar und das erwähnte Museum Fridericianum hinzu.

Diese Bildungseinrichtungen waren auch im Innern vom aufklärerischen Geist erfüllt. So legte eine „Vorschrift einer besseren Lehrart in den lateinischen Schulen“ (1775) fest, die Schüler sollten mehr durch Vertrauen und Einsicht als durch Strafen und strenge Noten zum Lernen ermuntert werden. Der Unterricht sollte anschaulich und verständlich sein, und der Lehrstoff sollte auf seine Nützlichkeit überprüft werden. Und schließlich wurde gefordert, die Schüler zum selbständigen Denken zu erziehen. Das sind Grundsätze, zu denen sich im weiteren Sinne auch heute noch Reformpädagogen bekennen können.

Allerdings kam dieser Reformansatz von oben. Landgraf Friedrich II., der von 1760 bis 1785 regierte, war als junger Student an der Universität in Genf mit den Gedanken der Aufklärung in Berührung gekommen. Er fühlte sich als Fürst dem neuen Denken verpflichtet und setzte in seiner Residenzstadt einige der vernunftmäßigen Prinzipien durch. Ähnlich wie sein preußischer Namensvetter Friedrich II., in dessen Schatten der hessische Landgraf zeitlebens stand, wollte er ein aufgeschlossener, ein philosophischer Fürst sein. Allerdings darf man nicht vergessen, dass sein der Humanität verpflichtetes Denken nicht alle Bereiche seiner Herrschaft betraf. Ja, viele seiner bildungspolitischen Neuerungen hätte er gar nicht finanzieren können, wäre er nicht gleichzeitig jener Landgraf gewesen, der gegen gutes Geld 17.000 seiner männlichen Untertanen als Söldner im Dienst der englischen Krone nach Amerika schickte. Das Licht der hessischen Aufklärung war also kräftig getrübt.

Gleichwohl ist es wichtig, an diese Periode der Erhellung zu erinnern, da sie bis in unsere Gegenwart ausstrahlt und direkt mit der Universität zu tun hat. Denn die 1777 gegründete Akademie wurde zur Basis der heutigen Kunsthochschule, die Teil der Universität ist. Und ohne die Akademie wäre die documenta in Kassel nicht denkbar. Zum anderen begann mit der Einrichtung des Fridericianums in der Residenzstadt das öffentliche Bibliothekswesen auf hohem Niveau. Das Fridericianum war mehr Bibliothek als Museum, und die Museumssammlungen illustrierten zum Teil das, was in den Büchern zu lesen war. In diesem Ort der Enzyklopädie wurde Bildung für jedermann zugänglich. Zwar gingen große Bestände dieser Landesbibliothek im Krieg verloren. Doch das, was erhalten blieb, war eine der Keimzellen der heutigen Universitätsbibliothek.

Aufklärung von oben stand am Anfang. Doch zur Ehre dieser Stadt entstanden auch aufklärerische Impulse von unten, aus der Bürgerschaft. Auf einen möchte ich eingehen. Um dies zu erläutern, mache ich einen gewagten Sprung aus dem späten 18. ins vorgerückte 20. Jahrhundert. Da gab es nämlich eine Phase, in der sich prominente Bürger Ende der 60er-Jahre für die Verknüpfung von Aufklärung und Kultur zur Entwicklung der Bildung einsetzten: Sie forderten mit Überzeugungskraft und Ausdauer die Gründung einer Universität in Kassel.

Das Land hat zwar letztlich für die Gründung der Gesamthochschule Kassel gesorgt, aber es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre die Hochschulgründungswelle jener Zeit an Nordhessen spurlos vorübergegangen. Begünstigt wurde schließlich die Entwicklung zu Gunsten Kassels dadurch, dass Ludwig von Friedeburg 1969 ins Amt des Kultusministers berufen wurde. Doch die entscheidende Vorarbeit hatte über Wochen und Monate der „Arbeitskreis Universität Kassel“ geleistet, aus dem der Hochschulbund hervorgegangen ist. Der Arbeitskreis hatte die Bürgerschaft, Öffentlichkeit und die Politiker auf die Idee einer Universität in Kassel eingeschworen. Mit Stolz darf ich darauf zurückblicken, dass der Verleger unserer Zeitung, Dr. Paul Dierichs, Initiator des Arbeitskreises war. Er nutzte alle ihm zur Verfügung stehenden publizistischen Mittel, um die Hochschulgründung zu erreichen. Über Wochen erschienen Tag für Tag Kleinanzeigen, in denen für eine bessere Bildung und für eine Kasseler Uni argumentiert wurde. Und nahezu jeden Tag wurde eine weitere nordhessische Stadt als Mitglied des Arbeitskreises registriert.

Ja, die Stadt und die Region haben für diese Universität gekämpft, sie haben sie unbedingt gewollt. Wenn die im späten 18. Jahrhundert geschaffenen Bildungseinrichtungen eher ein Geschenk von oben waren, dann war die 1971 gegründete Hochschule erst einmal ein Geschenk der Bürger an die Allgemeinheit. Insofern, denke ich, kann sich Kassel mit Recht als eine Stadt der Aufklärung fühlen.

Die Stadt lag im Abseits, dicht an der Zonengrenze. Die Industrie verlor an Bedeutung, die Verkehrsverknüpfungen waren schlecht und Ersatzansiedlungen gab es nur im geringen Maße. Keine rosigen Aussichten. Gleichwohl gelang es der Stadt, sich neu zu erfinden. Den ersten Beitrag dazu hatte Arnold Bode als Absolvent und später Professor der Kunst- bzw. Werkakademie geleistet. Mit der Begründung der documenta aus der Akademie heraus trug er wesentlich dazu bei, die im Abseits liegende Stadt alle vier oder fünf Jahre zum Zentrum der Kunstwelt zu machen. Die Kraft, dies immer wieder neu zu leisten, bringt die Stadt meiner Einschätzung nach nur deshalb auf, weil sie in der Zeit zwischen den Großausstellungen auf das Normalmaß einer kleiner deutschen Großstadt zurückfällt.

Der zweite nachhaltige Beitrag ist die Uni-Gründung, wobei es bisweilen gar nicht die Eigendynamik der Institution ist, die gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Folgen zeitigt. Oftmals gehen die Veränderungsimpulse aus einzelnen Fachbereichen, Forschungsprojekten oder Ausgründungen hervor. Allerdings hat es Jahre gebraucht, bis die Stadt und die neue Hochschule eine gemeinsame Verständigungsbasis fanden. So sehr die Bürgerschaft für die Gründung gekämpft hatte, so schwer tat sie sich, als es dann die Hochschule wirklich gab.

Warum?

Man hatte sich eine Universität gewünscht, man bekam aber eine Gesamthochschule, die nüchtern GhK hieß. Was sollte man sich darunter vorstellen, zumal es gleichzeitig Gesamtschulen und die Gesamtvolkshochschule gab? Anstelle von Fakultäten wurden Organisationseinheiten geschaffen; habilitierte Professoren legten Wert darauf, dass sie im Gegensatz zu den beförderten Fachhochschuldozenten richtige Professoren seien; außerdem wurde die neue Hochschule gar nicht sichtbar, weil der Lehrbetrieb in den vorhandenen Einrichtungen wie Ingenieurschule und Kunsthochschule wie zuvor weiterlief und der einzige Neubau unter dem fürchterlichen Namen AVZ fernab vom Stadtzentrum in der Plattenbausiedlung Brückenhof stand. Das sollte die ersehnte Universität sein, für die man gekämpft hatte und die nicht einmal Medizin und Jura im Angebot hatte?

Weder das Reformprofil wurde gesehen noch der Eifer, mit dem die damals jungen Professoren, die in diesen Jahren in den Ruhestand gehen, ans Werk gingen. Es dauerte Jahre, bis die neue Hochschule in der Stadt ankam, bis sie als Bereicherung und Motor einer Veränderung angesehen wurde.

Die neue Hochschule wurde zuerst dort spürbar, wo sie gar keinen Standort hatte – im Vorderen Westen. Dort eroberten Wohngemeinschaften von Professoren und Studenten die Altbauwohnungen und bewahrten einige Gründerzeithäuser vor dem Abriss. Dort gingen aus der studentischen, alternativen Szene der Praxisladen am Bebelplatz als eine Mischung aus Galerie und Diskussionsforum sowie die Stattzeitung hervor, und dort wurden 1981 der Filmladen als Programmkino und das Offene Wohnzimmer als universales Lese- und Diskussionsforum gegründet.

Kinderladen, Praxisladen, Filmladen – in den Begriffen wird der Geist der Nach-68er-Zeit lebendig. Der Praxisladen, der nur relativ kurze Zeit bestand, war ein Gegenmodell zur institutionellen Ausstellungswelt. Aber wie die Großausstellung documenta wäre er ohne die (Kunst-)Hochschule nicht denkbar: Mit der Autorität eines Professors der Werkakademie hatte Arnold Bode vor über fünf Jahrzehnten den Antrag zur Finanzierung der documenta gestellt. 20 Jahre später waren es in erster Linie die Studenten, die Initiativen zur Entwicklung einer neuen Kultur ergriffen. Auch der Filmladen als Keimzelle der Bali-Kinos und des Gloria-Filmpalastes ist das Geschöpf ehemaliger Studenten. Wenn man bedenkt, dass 1987 die Caricatura hinzukam, dann wird bewusst, wie gut der Wissenstransfer funktionierte, bevor sich dieses Modewort etablierte.

Die Stadt ist eine andere geworden, und die Verknüpfungen zwischen städtischer und universitärer Kultur haben sich intensiviert. Das beste Beispiel ist das Dokumentarfilm- und Videofest, das vom Filmladenteam zu einem mittlerweile über die Grenzen des Landes hinaus beachteten Festival ausgebaut worden ist und das aus der Kunsthochschule immer neue Impulse bekommt. Ohne Mühe ließen sich weitere Linien weiterfolgen – zur Kneipenszene im Vorderen Westen, zu den ersten Bioläden und Bio-Höfen und von da zum Standort Witzenhausen oder zum Schlachthof in der Uni-Nähe, in dem sich kreative Kultur- und Sozialarbeit mischen und in dem mit Unterstützung des Musikbereichs der Hochschule die Weltmusik ihren Ort fand.

Noch heute sind viele Bürger der Meinung, in der Nacht vom 22. zum 23. Oktober 1943 habe die Stadt ihre Identität, ihre Seele, verloren. Die Zerbombung der Stadt hat in der Tat tiefe Wunden gerissen. Das haben viele Städte ebenso erleiden müssen. Der Unterschied zu anderen Städten ist nur der, dass in Kassels Innenstadt nur begrenzt einen Wiederaufbau gab. Alte Grundrisse und Straßenzüge wurden zugunsten völliger Neuplanungen aufgegeben. An Stelle der zur Idylle verklärten Enge wurden breite Achsen angelegt. Bis in die Gegenwart hinein können viele Bürger der so entstandenen 50er-Jahre-Architektur nichts abgewinnen. Die Folge war, dass seit den 70er-Jahren an dem Stadtbild herumgedoktert wurde… bis, ja, bis Architekten, Stadt- und Landschaftsplaner der Universität immer häufiger die Stadt Kassel als Forschungsgegenstand und Labor entdeckten und nutzten.

Nach der Wiederaufbauphase erlebte die Stadt ab den 80er-Jahren eine zweite Gründerzeit. Sie wurde gestalterisch vorrangig von Professoren und Mitarbeitern in dem heutigen Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung getragen. Nach meiner Einschätzung verbirgt sich in dieser Einmischung dis bislang größte und nachhaltigste Leistung der Universität für die Stadt. Durch dieses Engagement fand die Stadt ein wenig zu sich selbst zurück.

Auch hier muss ich auf Arnold Bode zurückkommen, denn dieser umtriebige Maler, Gestalter, Lehrer und Ausstellungsorganisator war bei der documenta-Planung von Anbeginn von dem Gedanken besessen, die Architektur einzubeziehen. Tatsächlich präsentierte er in der Ausstellung von 1955 Architekturfotos. Aber Fotos waren ihm nicht genug. Er wollte Eingriffe, wollte die gebaute Moderne weiterentwickeln. Sein Zauberwort hieß documenta urbana. Erst nach seinem Tod und sicherlich anders, als er es sich gewünscht hatte, wurde das experimentelle Bauprojekt documenta urbana Wirklichkeit. Die heutige Universität war in doppelter Weise beteiligt – durch den Ideengeber Bode und durch Architekten, die Modellbauten entwickeln halfen.

Die documenta urbana an der Dönche war ein Anfang. Heute verfügt die Stadt über mehrere Siedlungsprojekte, die Vorzeige-Quartiere sind. Nach der documenta urbana entstand am Wasserturm die Ökosiedlung, in der Baustoffe wie Holz, Lehm und Glas dominieren und hohe Dämmstandards gelten. In ihr konnte modellhaft umgesetzt werden, was an der Universität zu neuen Bauweisen gelehrt wird. Es kamen die Marbachshöhe als großes Konversionsprojekt hinzu und als das wichtigste und folgenreichste Projekt die Unterneustadt.

Lassen Sie mich für einen Moment bei der Unterneustadt bleiben, auch wenn viele von Ihnen deren Neubegründung selbst mitverfolgt haben. Es macht Spaß, durch diesen neuen Stadtteil spazieren zu gehen und zu sehen, wie er mit der neuen Fußgängerbrücke die Fulda einbindet. Doch nicht in der Architektur mit ihren unterschiedlichen Bauformen und Stilen liegt die eigentliche Leistung. Die wurde vielmehr im Vorfeld des Bauens vollbracht – in einem einzigartigen Diskussions- und Planungsprozess, an dem zahlreiche Architekten und Stadtplaner aus der Universität und aus befreundeten Hochschulen beteiligt waren und in dem die Öffentlichkeit für ein neues Denken in der Stadtplanung sensibilisiert wurde. In der Unterneustadt gelang vieles, was sonst oft zu scheitern droht, weil die Stadt und das Projektmanagement mitzogen: Innerstädtische Verdichtung auf alten Grundrissen, Verkehrsberuhigung und soziale Mischung. Der eigentliche Glücksfall aber war, dass man es schaffte, einen groben Gesamtplan zu entwickeln, in dessen Grenzen nicht ein einzelner Investor, sondern viele Bauherren ihre eigenen Vorstellungen realisieren konnten.

Nicht zuletzt durch Projekte wie die Unterneustadt ist der Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung zu einem festen Partner der Stadt geworden. Die Zusammenarbeit wurde noch dadurch verstärkt, dass das Evangelische Forum eine Plattform für Diskussionen zur Stadt- und Regionalentwicklung schuf und somit zu einer Transferstelle für die Hochschulforschung wurde.

Natürlich glückt nicht alles. In den 80er-Jahren waren aus der Universität entscheidende Impulse zu einer Neugestaltung des Königsplatzes gekommen. Eine Zeitlang schien es so, als würde der Königsplatz zum Musterbeispiel für Bürgerbeteiligung mit wissenschaftlicher Begleitung. Es schien Großes und Dauerhaftes zu entstehen. Doch dann scheiterte die Neugestaltung des Königsplatzes so sehr, dass es zum Machtwechsel im Rathaus kam und in einer Nacht- und Nebel-Aktion das Brücken-Bauwerk abgerissen wurde.

Je länger man darüber nachdenkt, desto mehr Felder im Bereich der Kultur fallen einem ein, die durch die Universität, ihre Lehrer und Studenten, verändert wurden. Es ist unmöglich, auf alles einzugehen. Doch es wäre sträflich, würde ich nicht darauf davon sprechen, dass Kassel dank der Universität und dank des unermüdlichen Engagements vieler Erziehungswissenschaftler mit der Offenen Schule Waldau und der Reformschule über zwei Modellschulen verfügt, die national Anerkennung gefunden haben. Die Schulen haben die universitäre Forschungsarbeit bereichert, und umgekehrt legen sie Zeugnis davon ab, wie richtungsweisend die Schulforschung in Kassel ist. Viele andere Schulen haben direkt oder indirekt davon profitiert. Ja, die Stadt ist zu einem Experimentierfeld für Schulentwicklung geworden, denn wenn man davon spricht, muss man die Waldorfschule sowie die Freie Schule einbeziehen, die durch Joseph Beuys während der documenta 6 angeregt wurde.

Wenn auf einem so begrenzten Feld derart viele Querbezüge sichtbar werden, wird klar, wie sehr die Stadt durch die Universität verändert und bereichert wurde.

Gleichwohl gibt es Leer- und Fehlstellen. Damit komme ich zu dem Angebot des Präsidenten, Wünsche für die zukünftige Entwicklung zu äußern.

Mit dem ersten Wunsch greife ich ein leidiges Thema auf: Wie viel mehr würde hier passieren und pulsieren, würde die überwiegende Zahl der Professoren auch hier leben. Ich kenne aus der Kunsthochschule das Argument, die Studenten würden gerade davon profitieren, dass deren Lehrer ihre Ateliers in den Kunstzentren Berlin, Köln oder München hätten. Sicher ist das nicht ganz falsch. Doch welche künstlerische Sogkraft würde diese Stadt entfalten können, wohnten die meisten Professoren hier und würden in der einen oder anderen Form an dem öffentlichen Leben (auch am Wochenende) teilnehmen! Ich bin überzeugt: Wäre irgendwann die kritische Größe überschritten, brauchte es keine Residenzpflicht zu geben, sondern wäre das Interesse groß, hierher zu ziehen.

Den zweiten Wunsch leite ich mit einer Frage ein: Hätte ein Rolf Schwendter, der Hausherr im Offenen Wohnzimmer und Spezialist für die Wiener Schule und die Subkultur war, heute eine Chance auf Anstellung? Im Zeitalter der Modularisierung ist dieser Mann, der mit seinen Plastiktüten immer etwas hilflos wirkte, als Hochschullehrer schwer vorstellbar. Trotzdem wünsche ich der Universität, dass sie ihre Zugänge auch für kreative Sonderlinge offen hält.

Drittens hoffe ich, dass die Verknüpfungen quer durch die Universität neu- und weiterentwickelt werden – und zwar außerhalb der institutionellen Einrichtungen. Ich denke, um von einem Beispiel zu sprechen, etwa an Lucius Burckhardt, der zum Design ebenso kompetent sprechen konnte wie zur Architektur, Stadtplanung oder Landschaftsgestaltung. Er hielt die Beziehungen zwischen der Kunsthochschule und dem Standort Holländischer Platz aufrecht, und er wurde überall als Fachautorität geschätzt, gerade weil er den Mut zur Eigenwilligkeit und Verrücktheit in sich trug. Solches Grenzgängertum zu ermutigen, sollte im ureigenen Interesse der Hochschule liegen.

Im vergangenen Jahrzehnt sind wir Zeugen einer Erneuerung der Universität Kassel von innen geworden. Dieser Prozess hat viel Kraft gekostet und zu einer außerordentlichen Stärkung der Forschung geführt. Ich wünsche der Uni, dass sie die Fähigkeit zur regelmäßigen Erneuerung behält, aber auch nicht vergisst, mit welchen Zielen und Profilen sie 1971 angetreten ist.
Rede zum Universitätstag, 9. 2. 2007

Copyrighthinweis: Der hier veröffentlichte Text darf für private Zwecke mit Quellenhinweis genutzt werden. Vervielfältigungen und kommerzieller Gebrauch sind nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Autors erlaubt.

Schreibe einen Kommentar