Die Geschichten der Welt neu erzählt

Am Sonntag Abend endet die Documenta11 in Kassel – eine Bilanz

KASSEL. Ob nun am Sonntag Abend der 1997 erzielte Rekord in Höhe von 631000 Besuchern knapp oder deutlich übertroffen worden ist, spielt im Grunde keine Rolle. Am Ende dieser Documenta11 ist erst einmal entscheidend, dass sich die Ausstellung als Institution behauptet hat und das sie über eine verlässliche, unverhältnismäßig breite Besucherbasis verfügt. Erneut hat sie einen Sommer lang die Kunstdiskussionen dominiert. Ihr ist es gelungen, Themen zu setzen und damit Streit zu entfachen, sie hat Widerspruch herausgefordert und auch Begeisterung entfacht.Vor allem hat sie ein so großes, weltweites Medienecho wie keine Ausstellung zuvor auch dank der Tatsache, dass sie erstmals eine wirkliche Weltkunstschau ist. Wie groß der Anteil der Ausstellungsleitung an diesem prinzipiellen Erfolg ist, lässt sich schwerlich rausrechnen. Aber man kann sagen, dass es der Ausstellung nicht zum Nachteil gereichte, dass sie wie schon die documentaX die gewohnte Kunstpfade verließ, Fotografie, Film und Video gleichberechtigt einbezog und sich mit Entschiedenheit dem Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit zuwandte. Man darf nicht vergessen, dass die Kunst in der jüngsten Vergangenheit immer wieder in Gefahr war, sich selbst zu genügen, zur Dekoration und damit austauschbar zu werden. Noch stärker als Catherine David vor fünf Jahren unternahm der Afroamerikaner Okwui Enwezor den Versuch, die Kunst in die Verantwortung zu nehmen und danach zu fragen, wie sie die Welt spiegele. Dabei erweiterte er den von den Künstlern bereits gesprengten Kunstbegriff nochmals und lud auch solche Filmemacher und Fotografen ein, die man im Rahmen von Kunstausstellungen nicht unbedingt erwartet hätte. Trotzdem ist der Eindruck mancher Kritiker falsch, in der Documenta11 würden hauptsächlich Bilder und Filme gezeigt, wie sie der Nachrichtensender CNN ausstrahle. Das Vorurteil wird dadurch gefestigt, dass im Katalog als illustriertes Vorwort 30 Bildseiten mit Fotos vom Terror unserer Zeit zu sehen sind. Der Irrtum kann nicht entstehen, wenn man in der Ausstellung genau hinsieht. Denn dann bemerkt man, dass das Dokumentarische, von dem man sich umgeben glaubt, nur in wenigen Fällen einer 1:1-Abbildung der Wirklichkeit entspricht. Meistens handelt es sich um Arbeiten, die das Dokumentarische als Modell nutzen, um an der Grenzlinie zur Wirklichkeit eigene Geschichten zu erzählen. Ein gutes Beispiel dafür ist Allan Sekulas Fotoarbeit Seemannsgarn (Fishstory), die einen Teil ihrer Kraft aus den Texten zwischen den Bildern bezieht. Nur selten sind die Geschichten erfreulich. Vorwiegend begegnen wir künstlerischen Modellen, die von Gewalt und Bedrückung, von Verfolgung, Missbrauch und Albträumen berichten. Unter diesen Umständen begreift man die Videos aus der Welt der Eskimos oder Shirin Neshats poetisches Video mit der Doppelprojektion schon dankbar als entspannende Beiträge. Die Geschichten der Welt werden neu erzählt; auch dann, wenn es eigentlich nichts zu erzählen gibt. Zu den überraschenden Leistungen der Ausstellung gehört, dass sie das spröde wirkende Konzeptkunst-Werk One Million Years von On Kawara durch das planmäßige Vorlesen zum Leben erweckt hat. Gewiss, auch durch das Vorlesen der Jahreszahlen erfahren wir nicht mehr über jene vorgeschichtliche Epoche, aber durch das Benennen werden die Jahre aus der Anonymität herausgeholt und gewinnen wir ein Gefühl für den Lauf der Zeit. Die Documenta11 ist ein Reservoir für solche Arbeiten. Selten gab es in einer Ausstellung so viele Arbeiten, die mit dem Begriff der Sammlung oder dem Bild operieren. Über die unübersehbaren Schwächen der Documenta11 ist hier wiederholt gesprochen worden. Die wenigen Beiträge zur Malerei vermitteln eine falsche und verengte Vorstellung von einem künstlerischen Medium, das sich keineswegs überlebt hat. Dafür kommt ihr anderseits das Verdienst zu, gezeigt zu haben, wie vielfältig die Video-Projektionen gestaltet werden können. Die Documenta11 und ihr Verhältnis zur Politik ist vielen Fehldeutungen ausgesetzt. Richtig ist, dass diese Ausstellung ungewöhnlich politisch ist, dass sie viele kritische und parteiische Beiträge enthält und zur Einmischung auffordert. Leicht übersehen wird dabei ihr Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Kunst und ihren unterschiedlichen Haltungen. Geht man die Ausstellung genau durch, dann bemerkt man, dass so gut wie keine künstlerische Position ausgelassen worden ist von der künstlerischen Selbstbespiegelung eines Dieter Roth über die Konzeptkunst eines Stanley Brouwn bis zur Video-Performance einer Joan Jonas. Die Missverständnisse ums Politische verdankt die Documenta11 der Tatsache, dass die vorausgegangenen vier Diskussions-Plattformen oft für das Gerüst der Ausstellung gehalten wurden. Dementsprechend wurde eine theorie- und kopflastige Schau erwartet, die sie nicht ist. Auf der anderen Seite wurde Enwezors Versuch, im Katalog den geistigen Ort für die Ausstellung zu bestimmen und nach dem 11. September das Loch in Manhattan (Ground Zero) als den Nullpunkt der globalen Auseinandersetzung zu begreifen, von einer Hannoverschen Zeitung so gedeutet, als habe Documenta11 einen vergleichbaren Angriff auf die USA wie die Terroristen geplant. Solche Kritik geht völlig daneben. Enwezor wird da nicht nur missverstanden; zum Glück ist auch die Ausstellung weder so abstrakt noch kompliziert wie der Katalogtext. Mit der Documenta11 setzte sich seit langem erstmals die Ausstellung nicht von ihrer Vorgängerin ab, sondern erweiterte das, was fünf Jahre zuvor versucht worden war. Das ist nicht unbedingt ein Modell für die Zukunft. Doch in einem Punkt kann die nächste documenta nicht hinter die Documenta11 zurück: Der globale Ansatz ist künftig zwingend.
HNA 13. 9. 2002

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