Grenze zwischen Foto und Film

Viertes Werkstattgespräch der Sparkassen-Finanzgruppe mit der D11-Künstlerin Fiona Tan

Der große Saal im Kasseler Hotel Reiss war hoffnungslos überfüllt. Kein Wunder, denn die Reihe der Werkstattgespräche der Sparkassen-Finanzgruppe mit Foto-Künstlern der Documenta 11 hat sich zu einem Renner entwickelt. Außerdem versprach das letzte der vier Gespräche, zu einem Gipfeltreffen der besonderen Art zu werden. Denn als Dialogpartner der aus Indonesien stammenden und in Amsterdam lebenden Filmemacherin Fiona Tan (Jahrgang 1966) hatte sich neben dem künstlerischen Leiter der Documenta 11, Okwui Enwezor, dessen Vorgängerin Catherine David angesagt. Doch wer ein Gipfelgespräch erwartet hatte oder gar gehofft hatte, da würden generelle Eindrücke und Bewertungen zur Ausstellung oder zur Rolle der Fotografie in der Kunst ausgetauscht, sah sich getäuscht. Selbst das, was in der Diskussion zu den Arbeiten von Fiona Tan gesagt wurde, brachte keinen großen Gewinn, zumal Catherine David offenbar nicht klar war, dass ihr die Moderatoren-Rolle zugedacht war. Vor allem hätte man sich mehr analytische Aussagen zu Tans Ausstellungsbeitrag gewünscht. Stattdessen blieb das Gespräch viel zu lange an einem Nebenaspekt hängen an der Tatsache, dass einer ihrer Filme ausschließlich aus Archivmaterial mit Aufnahmen aus der Kolonialzeit besteht. So reduzierte sich das Ereignis darauf, dass man David und Enwezor zusammen auf der Bühne sah und dass Fiona Tan einen lebendigen Einblick in ihr Werk und ihre Arbeitsweisen vermittelte. Dieser Teil der Selbstdarstellung entschädigte für das andere, das nicht geboten wurde. Fiona Tan ist eine Künstlerin, der es nicht unbedingt darum geht, neue Bilder zu erfinden. Für genauso reizvoll hält sie es, vorhandenes Bildmaterial einzusetzen, zu befragen und zu analysieren. Sie fühlt sich wohl, wenn sie, wie sie es ausdrückt, in der Resteküche arbeitet und aus den Resten neue schmackhafte Menüs zaubern kann. 1998 beispielsweise hat sie einen Film gemacht, in dem immer wieder Szenen auftauchen, die zeigen, wie Schwimmer vom Sprungturm ins Becken springen. Faszinierend wird die Reihe dadurch, dass sie das Geräusch des Aufklatschens verschiebt, dass es mal punktgenau mit dem Eintauchen zu hören ist, mal wie ein Echo nachklappt und dann wieder vorempfindend vorausgeht. Der Film ging aus der Fotografie hervor. In vielen ihrer Arbeiten sucht Fiona Tan jene Grenzlinie, auf der sie die beiden Medien zusammenführen kann. Hervorragend gelungen ist ihr das in ihrem Beitrag zur Documenta 11 mit dem Titel Countenance. Es handelt sich um eine dreifache Video-Installation lebensgroßer Porträts. Die Aufnahmen hat Fiona Tan in Ost- und Westberlin gemacht. Zu der Arbeit angeregt wurde die Künstlerin während ihres einjährigen Berlin-Aufenthaltes, als ihr ein Bildband von August Sander in die Hand fiel. Der Kölner Fotograf Sander hatte in den 20er- und 30er-Jahren den Versuch unternommen das Antlitz der Menschen im 20. Jahrhundert fotografisch zu dokumentieren. Quer durch alle Schichten (Sander sprach von Ständen) ließ er die Menschen vor sich posieren. Sie präsentierten sich immer stolz und selbstbewusst und gaben sich meist als Vertreter eines bestimmten Berufes zu erkennen. Im Besonderen suchte Sander das Allgemeine. Fiona Tan übernahm für sich Sanders Ansatz um zu überprüfen, inwiefern sich die Menschen in ihrem Selbstverständnis verändert haben. Der erste Eindruck ist, dass sie natürlicher und offener wirken. Die künstliche Pose, von der Okwui Enwezor sprach, gehörte bei Sanders Porträts dazu. Sie ließ selbst den Handlanger als Persönlichkeit erscheinen. Bei Fiona Tan aber ist sie nicht mehr zu spüren. Das, was Fiona Tans Arbeit so atemberaubend macht und worin sie sich von Sanders Werk unterscheidet, ist die Aufnahmetechnik. Die Künstlerin bat die Personen, sich vor ihr möglichst unbewegt aufzustellen. Sie nahm sie also in gleicher Weise auf wie Sander. Doch da Fiona Tan filmte, wurde nicht ein Moment eingefroren, sondern lief das Leben um die Porträtierten herum weiter Kinder und Tiere bewegten sich und die Geräusche wurden dokumentiert. Das heißt: Die Menschen wurden für die Dauer der Aufnahme aus dem Leben herausgelöst und scheinbar auf ein Porträt reduziert. Der Ton und die unübersehbare Bewegung im Umraum aber verdeutlichten, dass es eben kein Standbild ist, sondern lediglich die Verbeugung der Filmemacherin vor dem Fotografen.
HNA 9. 9. 2002

Schreibe einen Kommentar