Grenzgänger zwischen Literatur und Kunst

Der tschechische Schriftsteller und Collage-Künstler Jiri Kolar ist 87-jährig gestorben

Auch die geschriebene oder gedruckte Sprache führt zum Bild. Wir sprechen vom Schriftbild, das einen Text prägt. Diese Beobachtung haben im 20. Jahrhundert zahlreiche Schriftsteller zum Ausgangspunkt für so genannte visuelle Texte genommen. Das heißt: Sie gestalteten auf dem Papier die Texte so, dass die Gedanken und Sprachbilder durch die Form des Schriftbildes verstärkt wurden. Damit führten sie die Literatur in den Grenzbereich zur bildenden Kunst. Der am 24. September 1914 in Protivin (Südböhmen) geborene Jiri Kolar, der jetzt einem Kreislaufversagen erlegen ist, hat durch seine feinsinnigen und poetischen Collagen sowie Objekte Weltruhm erlangt; zwei Mal, 1968 und 1977, war er mit Werken in der documenta vertreten. Viele seiner Bilder und Objekte bestehen aus Sprachbildern aus gedruckten Texten. Während aber die Vertreter der visuellen Poesie die Wirkung und Aussagekraft ihrer Texte zu verstärken suchen, zersplitterten die Sätze und Verse unter Kolars Händen. Der Mann, der als Schriftsteller begonnen hatte, ging nämlich als Künstler dazu über, die gefundenen gedruckten Texte, Noten und Bilder nur noch als bildhafte Materialien zu nutzen. Er zerschnitt die Texte in kleine Schnipsel und klebte sie dicht an dicht nebeneinander. Dabei kam es ihm nicht auf die Lesbarkeit an, sondern auf die Dynamik der Textverläufe und die Rhythmik der Strukturen. Die Bildflächen erscheinen wie Gewebe aus Ornamenten. Jiri Kolar entleerte also die Sprache. Übrig blieb die reine Form. Unter dem Einfluss der Surrealisten schuf Kolar mit Hilfe dieser Textstrukturen fantasievolle Formen. Auch ging er dazu über, richtige Objekte zu gestalten oder alltägliche Formen (Apfel, Löffel, Fisch, Ente) rundum mit Textschnipseln zu bekleben, so dass sie zu heiteren Sprachbotschaftern werden konnten. Gleichzeitig verfolgte Kolar eine andere Linie: Er schuf Collagen aus gefundenen Foto-Reproduktionen (etwa von berühmten Gemälden), indem er die Fotos in kleine senkrechte Streifen zerschnitt, diese Streifen kaum merklich auseinander zog und dann fest klebte. Die neu entstandenen Bilder wirkten so, als seien sie in die Breite gezogen. Uns sind solche Effekte mittlerweile durch gelegentliche Verzerrungen auf dem Bildschirm vertraut. In anderen Collagen löste Kolar die Motive völlig auf oder verfremdete sie durch Einfügungen von Fotos aus anderen Zusammenhängen. Obwohl die Collagen-Texte nie lesbar waren und sie die gedruckte Sprache immer nur als reine Form einsetzten, ist Kolar bis zum Schluss ein Poet unter den Künstlern geblieben. Seinen internationalen Durchbruch erlebte Kolar 1968, als er an der documenta4 beteiligt war. Nach Ende der Reformära in der damaligen Tschechoslowakei (Prager Frühling) geriet er in Konflikt mit der politischen Führung seines Landes. Nachdem er die 1977 die Charta 77 der Oppositionellen mit unterschrieben hatte, wurde Kolar 1981 während seines Aufenthaltes in Paris ausgebürgert. Er nahm auch die französische Staatsbürgerschaft an. Nach der Wende im Ostblock kehrte Kolar 1992 in sein Heimatland zurück. Zuletzt hatte er starke körperliche Beschwerden und war auf den Rollstuhl angewiesen.
HNA 13. 8. 2002

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