Thematische Linien durch die Documenta11 (10): Arbeiten, die ein Verhältnis zur Wirklichkeit herstellen
Besser sehen durch documenta5 hieß 1972 das Motto. Die Kasseler Ausstellung verstand sich als eine große Sehschule, in der man die verschiedenen Bildwelten zwischen Kitsch und Kunst miteinander vergleichen konnte. Dementsprechend könnte das Motto in diesem Sommer lauten: Besser verstehen durch Documenta11. Denn lange nicht mehr hat es in einer zeitgenössischen Kunstausstellung so viele Arbeiten gegeben, die versuchen, die Welt zu erklären. Nun ist es aber nicht so, dass die Hinwendung zur Wirklichkeit ein allgemeiner Trend in der Kunst wäre. Wenn dennoch die Documenta11 vor allem solche Künstler und Werke präsentiert, die sich der Wirklichkeitsbefragung zuwenden, dann hat das mit der Auswahl insgesamt und speziell mit der stärkeren Einbeziehung von Fotografie, Film und Video zu tun. Die Wirklichkeitsbezüge von Fotografie und Video-Kunst sind in dieser Artikel-Reihe schon behandelt worden. Trotzdem sei noch an eine Video-Arbeit erinnert, weil sie deutlich macht, dass die Dokumentation von Wirklichkeit auch an die Grenzen des Verstehens führen kann: Pascale Marthine Tayou hat den hintersten Raum der documenta-Halle als eine begehbare Installation gestaltet. Den Raum beherrschen zehn Monitore, auf denen parallel Bilder aus Jaunde (Kamerun) zu sehen sind. Man spürt die Vitalität einer Stadt, das Brodeln des Lebens, doch die Versuche exakter Wahrnehmung scheitern, weil sich die Bilder gegenseitig übertrumpfen und die Geräusche überlagern. Wo man Ordnung sucht, findet man das reine Chaos. Auch das ist ein Befund der Realität. Einem Bilderchaos auf Bildschirmen und in Projektionen sieht man sich auch in dem Raum von Joelle Tuerlinckx gegenüber. Aber da entsteht die Verwirrung weniger durch das Nebeneinander von Abbildern als vielmehr durch die unterschiedlichsten Ansätze, die Mittel zu gewinnen, mit denen man die Welt beschreiben und abbilden kann. Es ist, als wollte die Belgierin das Vokabular erarbeiten, das sie zur Zeichensprache befähigt. Solche Zweifel kennt Andreas Siekmann nicht. Seine 200 vornehmlich blau-roten Zeichnungen benutzen das Motiv einer leeren Jeans, um in einer Mischung aus Comic- und Politkunst mit den hier herrschenden politischen Machtverhältnissen abzurechnen. Er legt die Gesetzmäßigkeiten offen. Das tut auch Maria Eichhorn, wenn sie die Besucher dazu verführt, in einer Kunstausstellung die Vereinbarungen zu lesen, die zur Gründung einer Aktiengesellschaft (AG) gehören. Allerdings kippt das Lehrstück ins Absurde um, da im entscheidenden Punkt die von ihr gegründete AG dem Zweck widerspricht: Ihre Gesellschaft darf keinen Gewinn machen. Für den prominentesten Beitrag zur Erklärung der Welt hat Ecke Bonk gesorgt. Seine zweiteilige Arbeit stellt sich ganz in den Dienst des von den Brüdern Grimm begründeten Deutschen Wörterbuchs. Indem er auf drei Wänden ununterbrochen Textauszüge aus dem Wörterbuch projizieren lässt, macht er die Dimensionen der deutschen Sprache (und des Denkens in ihr) anschaulich. Einen umfassenden Versuch zur Weltbeschreibung hat Frédéric Bruly Bouabré unternommen. Seine postkartengroßen Zeichnungen umreißen einen Kosmos, der die Sprache und Kultur von Bouabrés Heimat (Elfenbeinküste) ebenso einschließt wie die Polit-Prominenz unserer Tage. Das Bild der Welt, das aus diesen und anderen Arbeiten entsteht, ist so widersprüchlich wie die Wirklichkeit selbst. Die erschütternden Fotos von den Leichenfunden in Ruanda (Eyal Sivan) gehören ebenso dazu wie der real erlebbare Traum von einem Park (Dominique Gonzalez-Foerster).
HNA 8. 8. 2002