Und überall die Spuren des Schreckens

Thematische Linien durch die Documenta 11 (8): Die Arbeiten, die Formen der Gewalt spiegeln

Ein Puppentheater. Wer zum ersten Mal den Raum von Annette Messager (Jahrgang 1943) in der Binding-Brauerei betritt, muss schmunzeln und fühlt sich vielleicht heiter gestimmt. Man sieht, wie Puppen an Drähten bewegt, hochgezogen und runter gelassen werden. Sie hüpfen, machen Verrenkungen oder werden über den Boden geschleift. In Wahrheit ist das überhaupt nicht lustig, was da passiert. Schaut man sich die Puppen näher an, erkennt man merkwürdig deformierte Fantasiewesen, deren Bewegungen sich zwischen erotischer Lust und nackter Gewalt abspielen. Eine albtraumhafte Welt des Schreckens tut sich auf. Das ist die Kunst der Verführung ein Bild (in diesem Fall ein Raumbild) so zu gestalten, dass es neugierig und Lust macht und erst allmählich enthüllt, welche Abgründe gemeint sind. Das Gelungene dabei ist, dass sich die Installation von Annette Messager nicht nur auf einen Punkt hin deuten lässt. Immer bleibt ein Rest unentdeckt oder offen. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Beitrag Galanterie und kriminelle Unterhaltung von Yinka Shonibare (Jahrgang 1962) ein paar Räume weiter. Unter einer in der Luft schwebenden Kutsche sieht man zwischen Reisekisten Figurengruppen in bunt gemusterten, farbenfrohen Kostümen. Die lebensgroßen Puppen sind in eindeutigen Sex-Stellungen angeordnet. Erotische Fantasien? Nein, der aus Nigeria stammende und in London aufgewachsene Shonibare erinnert mit dieser Arbeit an die so genannten Bildungsreisen der jungen Adligen im 18. Jahrhundert, die diese Erfahrungen auch nutzten, um sich ungehindert sexuelle Erfahrungen anzueignen. Da, in der Fremde, konnten sie dies anonym und gesichtslos tun. Deshalb hat Shonibare die Puppen kopflos präsentiert. Gewalt und sexuelle Unterdrückung sind nicht Kennzeichen einer Epoche. Sie sind traurige und feste Bestandteile der Geschichte. Das deuten die Arbeiten von Messager und Shonibare an. Das gilt aber auch für den Raum von Louise Bourgeois (Jahrgang 1911). Ihre mit Stoff überzogenen Figuren und Torsi rühren an. Sie wirken in den Käfig-Vitrinen ebenso eingesperrt wie ausgestellt. Die Nähte an den Köpfen erinnern an Narben. Wenn man unter dem Mantel der madonnenähnlichen Zentralfigur die kleinen Köpfe entdeckt hat, weiß man, dass hier schreckliche Erfahrungen und Visionen verarbeitet worden sind. Eine Reihe von Arbeiten spiegelt die Gewalt und deren Folgen als menschliche Grunderfahrung. Dabei schwingt in ihnen vieles andere untergründig mit. Ein weiteres Beispiel dafür ist der unter Strom gesetzte Raum von Mona Hatoum (Jahrgang 1952), in dem unterschiedlich aufleuchtenden Objekte das Bedrohliche der Installation überspielen. Daneben sieht man viele Foto- und Videoarbeiten, die zwar Formen realer Gewalt mit konkreten Bezügen dokumentieren, die dies aber indirekt tun. Nicht die böse Tat wird gezeigt, sondern die Spur, die zu ihr führt. David Goldblatt (Jahrgang 1930) erzählt in seinen Fotos fast beiläufig von der Rassentrennung in Südafrika und von den neuen Gettos nach Ende der Apartheid. Kendell Geers (Jahrgang 1968) bildet Warnschilder von scharf bewachten Privatgrundstücken ab, und Zarina Bhimji (Jahrgang 1963) führt in ihren Film in poetisch anmutenden Bildern in verlassene und bewachte Räume, in denen Leben und Menschenwürde keinen Platz mehr haben. Und dann stößt man auf Arbeiten, die ganz unmittelbar Terror und Gewalt beschwören, deren Intensität sich man nicht entziehen kann. Die Räume mit ihren Blendungseffekten von Alfredo Jaar (Jahrgang 1956) und Tania Bruguera (Jahrgang 1968), die von Bildvernichtung und Verfolgung handeln, sind da zuerst zu nennen. Oder man denke an die Folterszenen, die Luis Camnitzer (Jahrgang 1937) in Bild und Raum darstellt, oder an die Foto-Malerei-Wände von Fabian Marcaccio (Jahrgang 1963), auf denen auch Bilder aus dem Vietnamkrieg erscheinen. Noch direkter arbeitet Kendell Geers in seinem zweiten Beitrag, in dem er eine Tötungsszene aus einem Film in eine Diafolge überträgt. Eine programmatische Einstimmung in die Sprache der mörderischen Gewalt gibt der Raum im Fridericianum, der die Malerei von Leon Golub (Jahrgang 1922) und die Stuhl-Objekte von Doris Salcedo (Jahrgang 1958) vereinigt. Während Salcedos verformte und verkeilte Stühle Sinnbilder für die in Kolumbien verfolgten und getöteten Menschen sind, hält Golub in seinen Bildern die Allgegenwart von Hass und Angst fest. Es gibt auch noch eine andere Gewalt die der wirtschaftlichen Konzentration und Verdrängung. Andreas Siekmann (Jahrgang 1961) hat sich in fröhlich wirkendenZeichnungen mit diesem Prozess auseinander gesetzt, der für viele zur Arbeitslosigkeit führt. Mit einem Fußtritt fliegt der Mitarbeiter aus dem Getriebe hinaus. Die leere Jeans ist dabei für Siekmann das Sinnbild für den Menschen, der nicht mehr gebraucht wird.
HNA 26. 7. 2002

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