Christo, die Visionen und die Zukunft der Kunst

Als Produzenten von Kunst der Visionen und der Erinnerung wurden Christo und Jeanne-Claude bei der Verleihung Kasseler Bürgerpreises Das Glas der Vernunft gestern gefeiert.

KASSEL Die zehnte Verleihung des Kasseler Bürgerpreises, mit dem der Grenzen überwindende Einsatz für Vernunft gewürdigt werden soll, verlief etwas anders als die vorherigen Feierstunden im Staatstheater. Statt der einrahmenden musikalischen Darbietung wurden vorweg kommentarlos Dias gezeigt. Sie erinnerten an die Aktion von 1968, die den damals jungen Künstler Christo und seine Frau Jeanne-Claude auch deshalb bekannt und berühmt machte, weil die Aufrichtung des 5600-Kubikmeter-Pakets“ erst im vierten Anlauf gelang. Dass seitdem die documenta-Stadt Kassel, wie beide wiederholt betonten, im Herzen von Christo und Jeanne-Claude eingegraben ist, möchte man gerne glauben. Jeanne-Claude trug den schlagenden Beweis dafür vor, als sie in ihre Dankesrede eine Anekdote so lebhaft einflocht, als sei es erst gestern geschehen: Als die Versuche mit dem 5600-Kubikmeter-Paket zum wiederholten Male gescheitert waren, weil sich das aus den USA gelieferte Material als untauglich erwiesen hatte, wandten sie sich Hilfe suchend an die Kasseler Jung-Unternehmer Wülfing und Hauck mit der Bitte, ihnen möglichst schnell eine neue Hülle anzufertigen. Die beiden waren zwar dazu bereit, wollten aber einen Vorschuss. Jeanne-Claude stellte einen Scheck aus, wies aber darauf hin, dass der nicht gedeckt sei. Doch sie sollten Christo und ihr vertrauen, in 15 Tagen sei das Geld auf der Bank. Die beiden Jung-Unternehmer ließen sich darauf ein, und die spektakuläre documenta-Aktion gelang. Die Neue Galerie in Kassel besitzt zwei Collage-Studien zu dem Kasseler Projekt. Die eine dokumentiert den ursprünglichen Plan, das Luftpaket vor dem Fridericianum aufzurichten; und die Andere zeigt, wie die Aktion in der Karlsaue aussehen sollte. Um diese beiden Originale wurde aus Anlass der gestrigen Preisverleihung mit Hilfe von Leihgaben eine kleine Ausstellung arrangiert, die noch etwa vier Wochen zu sehen ist. Neben dem Kasseler Projekt werden in Studien und Fotos die Reichstags-Verhüllung und die Aktion Verhüllte Bäume in Erinnerung gebracht. Reichstags-Verhüllung Im Beisein von Christo und Jeanne-Claude wurde die kleine Ausstellung, die die Größe der Ideen sichtbar werden lässt, eröffnet. Zu Recht nahm das Künstlerpaar vor dem Bild zur Reichstags-Verhüllung Prof. Rita Süssmuth, die frühere Bundestagspräsidentin, in die Mitte. Das ist die Dame, die die Verhüllung möglich gemacht hat, meinten sie zu den Ehrengästen. Dass für Rita Süssmuth der Einsatz für das Christo-Projekt eine Überzeugungssache war und ist, machte sie durch ihre Rede im Staatstheater deutlich. Im Sinne von Christo und Jeanne-Claude sagte sie: Wir Menschen brauchen eine Vision. Durch die Verhüllung des Reichstages sei die politische Umwandlung Deutschlands nach der Wende durch eine kulturelle ergänzt worden. Die Politikerin schilderte, wie das Künstlerpaar und sie selbst viele Einzelgespräche geführt und bis zuletzt gebangt hätten, ob der Bundestag dem Projekt zustimme. Und weil die Verwirklichung der Verhüllung zum Bewusstseinswandel beigetragen habe, habe man erfahren können, dass Kultur kein Luxus, sondern Voraussetzung für Leben und Zukunft sei. Nachdrücklich forderte sie in diesem Zusammenhang, dass der Staat die Kulturfinanzierung selbst ermöglichen müsse und nicht nur den Sponsoren überlassen dürfe. Einen anderen Aspekt der Verhüllungsaktionen würdigte Prof. Karin Stempel, Rektorin der Kunsthochschule Kassel und zusammen mit Rita Süssmuth im Einsatz für die aktuelle Kunst im Reichstag, kampferprobt. Sie hob in ihrer Laudatio hervor, dass die beiden, die wie Nomaden durch die Lande zögen und an Stelle von Denkmalen nur Erinnerungen hinterließen, vielfach bewiesen hätten, dass Träume wahr und Utopien wirklich werden könnten. Indem Christo und Jeanne-Claude die poetischen Dimensionen des Alltags aufgezeigt hätten, wäre auch die Gesellschaft in die Kunst einbezogen worden. Anstrengung Intensiv auf die Bezüge von Gesellschaft ging Jean-Christophe Ammann, der Direktor des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt, ein. Er inszenierte sich selbst in seiner Rede und gestaltete damit unterhaltsam, was höchste Anstrengung verlangte. In seinem wissenschaftlichen Exkurs schlug er indirekt einen Bogen zu einer anderen Kasseler Veranstaltung, den Millennium-Tagen, die wiederholt den Informationstechniker Leo Nefiodow (Der sechste Kondratieff) gewonnen haben. Nach Nefiodow entwickeln sich Wirtschaft und Gesellschaft wellenförmig, wobei es nach 40 bis 60 Jahren zu Umwälzungen komme. Demnach leben wir im fünften Kondratieff, im Zeitalter der Informationstechnik. Dieser Phase folge nach 2015 der sechste Kondratieff, der im Zeichen der psychosozialen Kompetenz stehe. Ammann erläuterte diese Theorie und folgerte daraus, dass also in der nächsten Phase wieder der Mensch in den Mittelpunkt rücke und dass Hoffnung bestehe, dass die kaum genutzte Ressource der Kreativität endlich aktiviert werde. Wenn es aber wirklich gelingen sollte, die schöpferischen Kräfte des Menschen zu mobilisieren, dann könne die Behauptung von Joseph Beuys umgesetzt werden, dass jeder Mensch ein Künstler sei. Damit sei nicht gemeint, dass jede Bilder male, sondern alle an der Gestaltung der Gesellschaft teilhaben könnten. Kein Ende Für Ammann ist das Ende der Avantgarde im 20. Jahrhundert nicht mit dem Ende der Kunst gleichzusetzen. Nur sieht er die künftigen Wirkungsfelder der Künstler künftig nicht mehr unbedingt in der Produktion von Bildern und Objekten. Das heißt für ihn, dass die Zeit zu Ende gehen kann, in der die Kunst nur eine Randerscheinung war. Sie könne ins Leben treten.

HNA 2. 10. 2000

Schreibe einen Kommentar