Bildserien des österreichischen Künstlers Christian Attersee (Jahrgang 1940) zeigt die Neue Galerie in Kassel vom morgigen Sonntag an.
KASSEL Die Neue Galerie in Kassel ist ein Museum, das die Kunst seit 1750 dokumentiert. Dabei zeigt sie schwerpunktmäßig Malerei von der Spätphase der Hofmalerei bis zur Gegenwart. In der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Kunst kommen expressive und figürliche Strömungen nicht oder nur ausnahmsweise vor. Daher überrascht jetzt Galerie-Leiterin Marianne Heinz mit einer Ausstellung, die dem Österreicher Christian Ludwig Attersee gewidmet ist. Denn Attersee, der 1977 an der Handzeichnungs-Ausstellung der documenta beteiligt war und 1984 sein Land bei der Biennale von Venedig vertrat, gehört zu den Exponenten der wilden Malerei, die zu Anfang der 80er-Jahre die Galerien eroberte. Aber wie bei den meisten anderen Künstlern deckt das Etikett wilde Malerei nur einen Ausschnitt von Attersees Arbeitsweise und Werk ab. Gemeint sind in erster Linie der spontane und expressive Zugriff, die unbändige Lust an der heftig eingesetzten Farbe und der Rückbezug auf erzählende Momente menschliche und comichafte Figuren. Doch schon, wenn man vom expressiven Malstil spricht, trifft man nicht den Kern von Attersees Bildern. Denn die zeichnen sich bei aller Heftigkeit des Pinselstrichs durch eine hohe, vielschichtige Malkultur aus. Das dynamische Spiel der Formen vollzieht sich auf einem durchgestalteten Untergrund, der für Tiefe und auch Harmonie sorgt. Marianne Heinz fand nach eigenem Bekenntnis den Weg zu Attersee über andere Österreicher, die in der Neuen Galerie vertreten sind Arnulf Rainer, Kurt Kocherscheidt und Jürgen Messensee; aber auch über seine Beziehung zur Literatur. Attersee ist dem Ursprung nach ein Fabulierer und Sprachkünstler. Er jongliert mit den Wörtern, erfindet neue hinzu und deutet Geschichten an, die zur Malerei und über sie hinaus führen. Diese literarischen Spuren schlagen sich nicht nur in den Titeln nieder, sondern erobern auch die Malgründe. Die Ausstellung in der Neuen Galerie versammelt um ein großes Gemälde Schwalbe zur Braut“ Bildzyklen, die auf Papier oder Karton gemalt sind. Aus der kompakten Hängung ergibt sich eine äußerst dichte, vitale und erfrischende Ausstellung, die von der Überlebenskraft der Malerei erzählt. Die Bilder aber wegen ihres Untergrunds aus Papier und Pappe Grafiken zu nennen, widerstrebt einem, weil der malerische Charakter so stark ist. Auftaktserie Arbeiten aus den vergangenen zehn Jahren überwiegen. Eine kleine Auftaktserie in Schwarz-Weiß aus den 70er-Jahren weist programmatisch darauf hin, dass Attersee mit seiner Bilderfindung dort gerne beginnt, wo Motive schon vorgegeben sind. Wie er damals in Fotos hineinmalte, greift er bis heute immer wieder gern auf gefundene und manchmal kitschige Alltagsmotive zurück, die er malend kommentiert oder zum Ausgangspunkt naiv wirkender Kompositionen nimmt. Über die Jahre hinweg ist Attersee sich und seinem Stil treu geblieben. Das heißt aber nicht, dass er sich nicht verändert hätte. Jede Bildserie öffnet einen eigenen Weg.
HNA 16. 3. 2002