Vergessene Wahrheiten

KASSEL Die documenta ist ein Mythos. Doch ein ganz besonderer Mythos ist die documenta5 von 1972. Jetzt ist ein Projekt zu dieser documenta ausgegraben worden, das die Verklärung jener Ausstellung noch verstärken wird, auch wenn die Wiederentdeckung dazu beitragen soll, vergessene Wahrheiten ans Licht zu holen. Es handelt sich um umfangreiches Video-Material (Gesamtlänge 20 Stunden), das Karl Oskar Blase für die Ausstellung herstellte: Er dokumentierte einige künstlerische Aktionen (Performances) und führte Gespräche mit Künstlern, Ausstellungsmachern, Kritikern und Besuchern. Die über 80 Interviews konnten damals die Besucher abrufen. Seit dem Ende der documenta5 waren die Bänder nie mehr gezeigt worden. Jetzt, 28 Jahre später, hat Blases Sohn Christoph das Material gesichtet und gesichert (an einer haltbaren, digitalisierten Form wird gearbeitet), eine neunstündige Fassung hergestellt und daraus eine Video-Installation gestaltet: Geordnet nach Künstler-, Kritiker- und Ausstellungsmacher-Statements laufen parallel drei Video-Projektionen. Die Premiere, die jetzt im Kasseler Kunstverein zu erleben war, litt allerdings darunter, dass sich in dem großen Saal zwei Abspielungen akustisch gegenseitig überlagerten, so dass die wichtigen Aussagen nicht immer zu verstehen waren. Stehen jedoch drei eigene Räume zur Verfügung, kann das Konzept überzeugen. Das Erste, was auffällt (und wodurch die Aufnahmen zu einem unvergleichlichen Dokument werden), ist die erfrischende unprofessionelle (nicht mediengerechte) Art, in der sich die Gäste interviewen ließen und in der die Videos gemacht wurden. Da waren die Helden wie Harald Szeemann, Arnulf Rainer und Alfred Nemeczek nicht nur fast 30 Jahre jünger, da waren auch ihre Haare und Bärte verwegener. Vor allem wurde da auch gedankenlos in die Kamera gepafft. Die documenta5 war, wie es sich meist verhält, heftigst umstritten. Die Video-Dokumentation spiegelt in hervorragender Weise die Bemühungen um die neuen, damals für viele schwer zugänglichen Kunstrichtungen und die hitzigen Debatten über einzelne Abteilungen. Allerdings gerieten die Tränen über das verworfene (ursprüngliche) Konzept etwas zu groß. Denn so politisch, wie im Nachhinein dargestellt, hätte die documenta5 nicht werden sollen.
HNA 30. 5. 2000

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