Der zeichnende Maler

Ausstellungseröffnung in der Galerie VIAarte, Wien, März 2007

Maarten Thiel 1 Maarten Thiel 3 Maarten Thiel 2 Thiel Eröffnung

Auch wenn das Malen und das Zeichnen im gegenwärtigen Kunstbetrieb keinen sehr hohen Stellenwert haben, sind sie doch, auf die Dauer gesehen, die beiden beständigsten Medien der Kunst. Dabei wird die Zeichnung allerdings oft mit der Skizze und Studie gleichgesetzt, die als Entwurf der Malerei vorausgehe. Tatsächlich gab und gibt es zahlreiche Maler, die auf der Grundlage eines zeichnerisch skizzierten Gerüsts arbeiten. Schließlich stehen das gezeichnete und das gemalte Bild für zwei Grundprinzipien:

Die Zeichnung entsteht aus mit dem Stift gesetzten Punkten und gezogenen Linien. Die Linien verdichten sich zur Form und Struktur und sie verweisen auf das Spannungsverhältnis von Fläche und Raum.

Das Gemälde hingegen entsteht erst einmal durch den Auftrag der Farbe auf den Malgrund. Malerei ist also ursprünglich flächig angelegt. Das heißt, dass die Künstler der Moderne vor 100 Jahren die Malerei auf ihren Ursprung zurückführten, als sie Abschied nahmen von dem Gemälde als illusionären Raum. Der Aufbau der Farben vollzieht in der Fläche und in Schichten. Erst die Herausbildung von Licht- und Schattenzonen sowie von Formen lässt die Frage nach der Beziehung von Fläche und Raum aufkommen.

Warum ich diese grundsätzlichen Überlegungen an den Anfang einer Einführung in das Werk von Maarten Thiel setze? Weil der aus Amsterdam stammende Künstler, der seit vier Jahrzehnten in Kassel lebt, beides ist, Zeichner und Maler, und weil er mit seiner Arbeit vieles von dem widerlegt, was grundsätzlich über die beiden künstlerischen Medien gesagt wird. Vor allem stimmt bei Thiel eines nicht: Seine Zeichnungen haben keine dienende Funktion. Sie sind keine Studien und Skizzen, keine Vorüberlegungen, sondern völlig eigenständige Werke. Das heißt aber nicht, dass sie mit der Malerei nichts zu tun hätten. Richtig ist vielmehr, dass sich die beiden künstlerischen Medien in einem ständigen, fruchtbaren Dialog befinden. Sie profitieren voneinander. Maarten Thiel ist ein zeichnender Maler.

Ich möchte das an der jüngsten Zeichnungsserie (aus dem vorigen Jahr) erläutern. Das kann ich allerdings nur verständlich machen, wenn ich zuvor einen Blick zurück auf Thiels frühes Schaffen werfe. Anfang der 70er-Jahre lernte ich Maarten Thiel als Zeichner und Grafiker kennen, der aus Linie Kompositionen entstehen ließ, die sich zu imaginären Landschaften verdichteten, die nur insoweit mit der Realität zu tun hatten, als immer wieder Pflanzen, vornehmlich Palmen, geometrische Formen, Segel und Zahlen als Zitate auftauchten. Viele dieser zur Erzählung neigenden Zeichnungen hatten mit Malerei nicht im Entferntesten zu tun. Zu dem Zeitpunkt kannte ich seine kleinformatigen Gemälde nicht, die in den 60er-Jahren entstanden waren und in denen er ein eigenes Vokabular zur malerischen Gestaltung der Fläche entwickelt hatte. Allein die Farbradierung als Mittlerin zwischen den Techniken zeugte indirekt von dieser Erfahrung.

In der Mitte der 70er-Jahre folgte eine kurze Phase, in der zeichnerischer Impuls und malerische Lust sich miteinander zu einer realistischen Malweise verbanden. Das war ein vergleichsweise kurzes, doch folgenreiches Zwischenspiel. Denn einerseits hatte sich Thiel nun die Möglichkeit erschlossen, direkter Wirklichkeitszitate – etwa Seekarten oder Darstellungen von Booten und Schmetterlingen – in seine Malerei zu verweben, und andererseits war er nun in der Lage, stärker auf das freie Spiel der Farbe zu vertrauen.
Lässt man die Arbeiten aus den verschiedenen Phasen Revue passieren, spürt man durchgängige Gestaltungsprinzipien – da gibt es vertraute Farbklänge, hier begegnet man altbekannten Motiven wie Blattformen oder Flechtwerken. Gleichwohl vollzog sich Mitte der 80er-Jahre ein Bruch. Man kann ihn als einen Durchbruch zum heutigen Werk von Maarten Thiel ansehen. Zwei Faktoren trugen dazu bei. Einmal war es die Zeit, in der Maarten Thiel vermehrt öffentliche Aufträge zur farbigen Gestaltung von Räumen erhielt. Das bestärkte ihn darin, auch großformatige Arbeiten anzugehen, die Farbe großflächig einzusetzen und zugleich vermehrt den konstruktiven Umgang mit der Farbe zu pflegen. Vielleicht noch entscheidender war die Erfahrung, die Maarten Thiel 1985 aus einem Projekt zog, bei dem er in acht Monaten 40 Zeichnungen anfertigte, die eine neue Dimension eröffneten. Es waren die Zeichnungen, die er im Zusammenhang mit dem Buch „Randbemerkungen“ für die Edition Monika Beck angefertigt hatte.

Damals habe ich vor allem die zeichnerischen Ergebnisse gesehen – die elementare Kraft, die Dynamik, den ungeheuer sicheren Zugriff und das Kreisen um ein weites Themenfeld, zu dem Segel, Flechtwerke, Reisigbündel und Meeresweiten gehören. Heute, gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Zeichnungsfolge, sehe ich Blätter anders. Der malerische Charakter tritt für mich viel stärker hervor. Ich empfinde diese Werkgruppe als den Ort, an dem der Zeichner und der Maler, die streckenweise nebeneinander her arbeiteten, verschmelzen. Einer treibt den anderen voran, die Linien werden von den Flächen aufgesogen, und aus den Tiefen der Farben treten zeichnerische Formen hervor. Fortan sind beide Wege untrennbar.

Die Arbeiten aus den vergangenen zwölf Jahren, die Sie hier versammelt sehen, sind Produkte dieser Verschmelzung. Für jemanden, der Maarten Thiels Werk bisher nicht kannte, mögen die Ideenvielfalt und die so unterschiedlichen Kompositionsansätze verwirrend sein. Hier sieht man eine monochrome Farbfläche, die nur an den Rändern von kontrastierenden, konstruktiven Streifen begrenzt ist, dort beherrschen Punkt- und Linienraster einen abstrakten Farbraum, dann wieder schieben sich in die Kompositionen Motive von Segeln oder Federn oder aus dem Bilduntergrund treten Strukturen hervor, die an Strandgut erinnern.

In der Reihung allerdings fügt sich nahtlos zusammen, was aus so gegensätzlichen Welten zu stammen scheint. Maarten Thiel hat sich in den 80er-Jahren einen ungewöhnlich großen Freiraum erkämpft; und er versteht es, ihn beständig auszuschöpfen.

Ein Künstler, der in 40 Jahren seine Möglichkeiten erprobt hat, der Grenzen überschritten hat, um dann doch wieder auf vertraute Ausdrucksweisen zurückzugreifen, ein solcher Künstler geht nicht naiv vor. Er weiß, was er tut. Und doch muss man wissen, dass er oftmals, wenn er auf einem neuen Karton oder auf einer neuen Leinwand zu arbeiten beginnt, nicht sagen kann, wohin ihn Stift oder Pinsel führen. Er mag eine Vorstellung, ein ungefähres Konzept, haben, doch wenn die ersten Farbflächen oder Formen stehen, entwickelt sich auf dem Bildgrund eine eigene Gesetzmäßigkeit, der sich der Künstler nicht entziehen kann. So, wie er vielschichtige Vorstellungen und Erinnerungen in sich trägt, wie die Erzähllust und der Drang zum Zeichnerischen unter oder über der Schicht liegen, die auf die Kraft der Farben setzt, und diese Schichten wiederum dem Spannungsfeld von strenger Ordnung und gestischer Auslöschung ausgesetzt sind, so konkurrieren die Kräfte auf dem Bildgrund miteinander.

Maarten Thiel gibt sich und den sich widerstreitenden Kräften Zeit und Raum. Er ist kein Schnellmaler. Die Bilder wachsen langsam, Schicht um Schicht. Viele Formen und Farben, die unter der farblich so klaren Oberfläche liegen, ahnen wir kaum. Aber sie geben den Kompositionen Tiefe, hauchen ihnen Leben und Bewegung ein und dringen doch unmerklich zur Oberfläche vor. Manchmal lässt Maarten Thiel angefangene Gemälde über Monate oder gar Jahre stehen. Irgendwann geraten sie wieder in den Blick – entweder, weil der Maler nun endgültig den Ansatz verwirft und eine völlig neue Schicht darüber legt oder weil er an einen Punkt angelangt ist, an dem er nun mit genau dem einen Bild weitermachen kann.

In den Zeichnungen zu dem Buch „Randbemerkungen“ ahnte man noch landschaftliche Bezüge. Die Werkgruppe, die jetzt zu sehen ist, hat diese Bezüge aufgegeben. Die Kompositionen schaffen sich ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten. Sie beziehen sich auf die Fläche. Nur gelegentlich scheinen aus dem Untergrund räumliche Strukturen auf. Bei aller Widersprüchlichkeit der Kompositionen gibt es durchgängige Prinzipien. Der augenfälligste Grundsatz ist der Kontrast der leuchtenden Farben. Bevor wir uns entscheiden können, ob wir die Malereien wahrnehmen oder nicht, melden sie sich, drängen sich mit ihrer Farbkraft auf. Das zweite Prinzip ist das stete Ringen von konstruktiver Ordnung und malerischer Lust, die sich jeder Strenge entzieht. Manchmal hat man das Gefühl, dass sich der Künstler selbst in den Arm gefallen sei, um der Glätte zu entgehen. Das Gefühl ist nicht falsch: Maarten Thiel zählt zu den Künstlern, die der Perfektion entgehen wollen, jener Reinheit, in der es keine Spannung mehr gibt. Das dritte Prinzip ist die Sehnsucht nach der verlorenen Welt. Man kann auch von einem unbestimmten Fernweh sprechen. Erinnerungen an vertraute Formen melden sich, die aus der sichtbaren Welt übernommen sind und nun zum Träumen, zur Meditation einladen. Diese dinglichen Formen sind zugleich Kontraste zu den rein abstrakten Flächen und Zeichen. In dieser bildnerischen Welt stehen sie gleichwertig nebeneinander. Der Titel der Ausstellung und des neuen Buches sagt es: „In Detail“. Die Bilder von Maarten Thiel spiegeln die Welt im Detail, nicht als Ausschnitt, sondern als eine Summe von Zitaten aus einer zerbrochenen Welt, die malerisch neu zusammengefügt wird.

Bevor ich zum Schluss komme, bin ich Ihnen noch einige Bewerkungen zu den jüngsten Zeichnungen schuldig, die in dem neuen Buch und auch in der Ausstellung zu sehen sind. Sie bilden für mich einen Höhepunkt in der beschriebenen Entwicklung. Anders als die vor zwei Jahrzehnten geschaffene Serie sind diese Blätter rein zeichnerisch angelegt – kein Acryl und kein Farbstift wurden benutzt, sondern nur der Bleistift. Die Zeichnungen führen ins Gegenständliche. Wieder sehen wir Flechtwerk und Blätter, Pflanzenstämme und Hölzer sowie geometrische Strukturen. Aber keine der Kompositionen verweist in landschaftliche Zusammenhänge. Alle Elemente, ob gegenständlicher Natur oder geometrischer Herkunft sind herausgelöst, zu Zeichen abstrahiert. Diese Zeichen jedoch bildet Maarten Thiel mit einer solchen Genauigkeit und Wahrhaftigkeit ab, dass er in den Bildern eine eigene Realität herstellt. Sie verweist auf die Welt und hat doch nichts mit ihr zu tun.

Das Faszinierende an den Zeichnungen ist, dass Thiel die Streifen und Linien- sowie Punktraster mit der gleichen Intensität darstellt wie die botanischen Formen. Alles wird in gleicher Weise wichtig und greifbar. Dazu gehört außerdem, dass er die Schwarz- und Grautöne so genau abstuft und dass er zwischen harter Linie und sanfter Schraffur so stark wechselt, dass die Zeichnungen eine malerische Räumlichkeit herstellen. Die mit dem Bleistift ausgeführte Zeichnung erscheint als eine andere Form von Malerei. Der zeichnende Maler hat sich auf eine neue Ebene begeben.

Schreibe einen Kommentar