Radikale Positionen der Malerei

Wie die documenta 12 die Kunst präsentiert – Konfrontation IV: Gerhard Richter und Lee Lozano

In der Serie „Wie die documenta 12 die Kunst präsentiert“ stellen wir Werke einzelner oder mehrerer Künstler vor, um zu zeigen, wie die Arbeiten aufeinander bezogen sind.

Die Malerei, in den beiden vorigen documenten eher unterbelichtet, wird in der kommenden Ausstellung wieder eine stärkere Position einnehmen. Dabei greift die documenta-Leitung auch auf ältere Arbeiten zurück. In diesem Fall handelt es sich um Bilder aus den 60er- und 70er-Jahren, die in unmittelbarer Nachbarschaft im Museum Fridericianum zu sehen sein werden.

Gerhard Richter, der seit 1972 zum siebten Mal zur documenta eingeladen wurde und der derzeit der gefragteste deutsche Künstler ist, hat sich als ein Maler einen Namen gemacht, der unvermittelt zwischen fotorealistischer und abstrakter Kompositionsweise wechselt. Lange Zeit ist seine Porträtkunst unterschätzt worden. In Kassel wird er das Bild seiner Tochter Betty aus dem Jahre 1977 zeigen, das wie die meisten seiner Porträts auf der Basis einer Fotografie entstand: Betty liegt wie krank auf dem Boden. Der rote Pullover und die roten Lippen verstärken die blasse Wirkung ihres Gesichts.

Das Bild ist mehr als ein familiäres Porträt. Es entstand nach dem 18. Oktober 1977, an dem die RAF-Terroristen Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe im Gefängnis in Stuttgart-Stammheim umkamen. Elf Jahre später malte Richter eine Serie schwarz-weißer Bilder nach Fotos zu der Todesnacht. Das Betty-Porträt war die erste, sehr persönliche Beschäftigung mit diesem Ereignis. Es verrät die Erschütterung.

Für documenta-Leiter Roger Buergel ist diese malerische Auseinandersetzung mit den Befreiungsideologien ein Schlüsselbild aus Richters Werk. Die ungewöhnliche Farbigkeit ist für ihn zudem ein Verweis auf Richters abstrakte Malerei.

In der Nachbarschaft zu dem Porträt werden Bilder der New Yorker Künstlerin Lee Lozano gezeigt, die mit wilden, comichaften, satirisch-obszönen Zeichnungen begonnen hatte und dann formalistisch und immer abstrakter wurde, bis sie sich in ihren Bildern auf wechselnde Farb- und Lichtwirkungen konzentrierte. In ihrem Werk, das nur in einem Jahrzehnt entstand, weil sie sich ab 1970 total aus der Kunst zurückzog, steckt das gleiche Spannungsverhältnis wie bei Richter: auf der einen Seite die realistisch-gegenständliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Tabuthemen und auf der anderen Seite die hingebungsvolle Arbeit an Bildern, die im Augenblick nichts anderes repräsentieren als sich selbst. Doch unter diesen unverbindlich scheinenden Oberflächen brodelt es.

HNA 9.5.2007

Schreibe einen Kommentar