Ins Glas geschrieben

documenta-Projekt von Mary Kelly

Welche Rolle spielt die feministische Bewegung der 70er-Jahre heute für die Gesellschaft und die sie spiegelnde Kunst? Die amerikanische Künstlerin Mary Kelly (Jahrgang 1941), die selbst zu den Akteurinnen der feministischen Bewegung gehörte, versucht, selbst mit künstlerischen Mitteln eine Antwort zu geben. Sie interviewte junge Frauen, die die Probleme und Geschichte des Feminismus nur aus Berichten und Erzählungen kennen, und sie befragte Altersgenossinnen, die den Aufbruch der Frauen miterlebt und mitgestaltet haben.
Mary Kelly wählte aus den Interviews Ausschnitte aus und übertrug sie als Zitate (in Englisch) in die Milchglasscheiben eines kleinen Gewächshauses, das als leuchtendes Gehäuse mitten in einem roten Raum in der Neuen Galerie steht. Die Zitate sind in Schreibschriftform in die Glasscheiben hinein geschnitten worden.

Die Klarheit und Sprengkraft der Aussagen muss man sich erst erschließen, denn aus der Distanz sieht das Glashaus mit den schön geschriebenen Zeilen einfach nur beschaulich und poetisch aus. Im unteren Teil des Hauses findet man die Antworten der jüngeren Frauen, die der Aktionsgemeinschaft von ehemals nachtrauern und etwas ratlos fragen: Wofür sollen wir kämpfen? Im oberen Teil finden sich die Bekenntnisse der Älteren. Auch bei ihnen klingt zuweilen eine Sehnsucht nach der vergangenen Zeit durch.

Die Schriftzeilen wirken sehr unterschiedlich: Wenn es außen heller ist, bildet sich ihnen das Rot der Wände ab; strahlt das Haus von innen, erscheinen die Wörter schwarz, wenn man den Kopf in das Haus gesteckt hat. Das kleine Haus ist dabei nicht nur Projektsfläche, sondern auch Symbol. Es versinnbildlicht, wo nach dem traditionellen Verständnis der Ort der Frau ist: Immer wieder wird sie von Teilen der Gesellschaft zwischen die vier Wände verwiesen.
Das „Multi-Story House“ steht inmitten eines Raumes, in dem weitere Arbeiten von Mary Kelly zu sehen sind – leuchtende Fotografien und schwarze, an die Wand gelehnte Tafeln, in die ebenfalls Wortfolgen hinein geschnitten sind.

Die Amerikanerin, die viele Jahre in London lebte, ist eine Erzählerin. Sie erzählt in Bildern und Worten von der Suche nach der Identität. In den 70er-Jahren hatte sie an dem 139-teiligen „Post-Partum Dokument“ gearbeitet, in dem sie die Rolle der Frau und deren Verhältnis zu ihrem (männlichen) Kind untersuchte. Auch in dieser documenta zeigt sie eine ausgedehnte Arbeit, die sich wie ein lang gezogener Fries in einem großen Saal (der früheren Eingangshalle) in der Neuen Galerie entwickelt. In der Kombination von ornamentalem Band und Schrift führt sie die Geschichte von einem bosnischen Jungen vor, der im Kosovo-Krieg seine Identität verloren hatte. Die Geschichte des Kastriot ist eingebunden in ein schlangenförmiges Band. Mary Kelly empfindet die Arbeit als eine bildnerisch entwickelte Ballade.

HNA 1. Juni 2007

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