Zeichnungen voller Geschichten

Wie die documenta 12 die Kunst präsentiert: Nedko Solakov und Annie Pootoogook

Annie Pootoogook Annie PootoogookTraditionell hat die Zeichnung in einer normalen Kunstausstellung einen schweren Stand. Das war auch einer der Gründe dafür, dass es in der documenta-Geschichte bisher zweimal (1964 und 1977) Sonderabteilungen für Zeichnungen gab.
Roger Buergel und Ruth Noack jedoch öffnen ihre documenta 12 für alle Medien und somit auch für die Zeichnung. Dabei bietet sich als Ausstellungsort unter anderem die Neue Galerie mit ihren kleinen intimen Kabinetten an. Dort werden die Besucher von zwei Zeichnern in exotische Welten entführt.

Zu sehen sind Bilder von dem Bulgaren Nedko Solakov (50) und von der kanadischen Inuit-Künstlerin Annie Pootoogook (38). Der Bulgare Solakov ist ein Geschichtenerzähler und Konzept-Künstler. Er verfügt über eine überbordende Fantasie, die ihn zu hintergründigen Kürzest-Geschichten verführt, die in die Nachbarschaft des Cartoons verweisen, aber stets voller Poesie sind.

Solakov Solakov2Wenn Solakov zeichnet, dann setzt er mit einer Bild\-Erfindung ein und ergänzt die Komposition durch ein oder zwei Sätze, die eine pointenreiche Geschichte ergeben. Die unten stehende Abbildung beispielsweise wird ergänzt durch folgenden (frei übersetzten) Text: „Ein Mann ist bereits im Himmel. Dort ist es ruhig und nett, obwohl er immer noch von seiner lebenslangen Furcht besessen ist, eines Tages sterben zu müssen.” Von Solakov sind in einem Raum insgesamt 99 schwarz-weiße Tusche-Zeichnungen zu sehen.
Während Nedko Solakov in die Welt der Fantasie entführt, stellt die Inuit-Künstlerin Pootoogook die Lebenswirklichkeit der kanadischen Eskimos vor. Sie hat den naiv-kindlichen Stil der Inuit-Kunst übernommen, doch die Naivität ist vorgetäuscht. Denn Annie Pootoogook beschwört in ihren Bildern keine Eskimo-Idylle, sie ist auch nicht der Sehnsucht nach dem einfachen Leben verfallen.

Vielmehr reflektiert sie in ihren Bildern ihr persönliches Leben. Während ihre Vorfahren noch als Nomaden lebten, ist sie domestiziert. Sie lebt wie viele andere Mitglieder ihres Volkes in einer normalen Wohnung, in der man im Fernsehen wie Millionen andere George Bush reden hört und sieht. Die Künstlerin orientiert sich an der traditionellen Bildsprache, wie sie auch ihre Großmutter pflegte, die ebenfalls Künstlerin war.

Doch Annie Pootoogook führt die Brüchigkeit ihrer Welt vor. Auch die hier reproduzierte Zeichnung deutet das an: Die Eskimo-Frau mit ihrem Kind, das sie auf dem Rücken trägt, ist gestürzt. Sie weint und ihre Nase blutet. Offenbar ist sie zu Fall gebracht worden, denn links sieht man gerade ein Kind wegrennen.

HNA 6. 6. 2007

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