Trauerrede für Maarten Thiel

Liebe Christa,
lieber Oliver und liebe Ulrike,
liebe Nicole und Familie,
liebe Angehörige,
liebe Freunde von Maarten,
sehr verehrte Damen und Herren,

in diesen Tagen habe ich immer wieder Maartens Atelier vor Augen: Die Pinsel und Farben wohl geordnet und rundum Bilder an die Wand gelehnt. Zwei kleinere Formate sind fast fertig. Bei dem einen fehlt, wie Christa mir sagte, im Grunde nur noch die Signatur. Aber so war Maarten: Auch wenn ihn Ausstellungstermine oder Zusagen an Auftraggeber drängten – bei dem einzelnen Bild ließ er sich nicht unter Druck setzen. Es musste von selbst wachsen und sich vor dem prüfenden Blick des Künstlers bewähren. Folglich passierte es nicht nur einmal, dass ein Bild, das uns überzeugte und gelungen schien, von Maarten verworfen und übermalt wurde. Dabei war es oft das zu Glatte, das seine Zweifel nährte. Er musste gegen die die Routine der Perfektion anmalen und jene störenden Elemente einbringen, die den Bildern ihr Geheimnis und ihren rätselhaften Zauber verleihen.
Das Atelier öffnet den Zugang zu Maartens künstlerischer Welt und damit zu seinem inneren Wesen. Es sieht so aus, als wäre er, der Maler, nur eben mal hinausgegangen und würde gleich wieder, spätestens aber morgen seine Arbeit fortsetzen. Doch die unvollendeten Bilder bleiben unvollendet. Maarten kehrt nicht zurück. Das zu begreifen, fällt uns heute unglaublich schwer, ja, erscheint fast unmöglich. Wir wehren uns gegen die Vorstellung, weil seine schwere Krankheit uns erst einmal nur wie eine Unterbrechung erschien. Doch sie schuf Endgültiges.
Heute müssen wir uns von Maarten verabschieden. Aber der Tod, dem wir uns alle stellen müssen, hat nicht das letzte Wort. Denn das Gedenken an Maarten birgt ganz von selbst Trost. Wir erinnern uns dankbar, wie es Eva Schulz-Jander gerade geschildert hat, an den treuen und zuverlässigen Freund, an den Menschen, den selbst diejenigen, die ihn nur flüchtig kannten, gleich als sympathisch und freundlich empfanden. Doch genauso wichtig ist das Bewusstsein, welchen Reichtum uns Maarten mit seinem künstlerischen Werk geschenkt hat. Ich meine nicht den Reichtum im Sinne von Geldwert und Besitz. Vielmehr denke ich daran, wie sich unser Sehen durch seine Bilder verändert und bereichert hat.
Für die wohl radikalste Änderung der Sehgewohnheiten hat Maarten Thiel durch seine angewandten Arbeiten im öffentlichen Raum gesorgt. Anfangs hat er, wie viele andere Künstler auch, seine Bildvorstellungen auf den Raum übertragen. Mit Hilfe seiner künstlerischen Gestaltung erweiterte er und verschönerte er Räume und Fassaden. Doch je länger er sich mit solchen Aufträgen beschäftigte, desto klarer bildete er die „künstlerische Farbkonzeption“ als eine eigene Disziplin aus. Er wurde zum Partner und Gegenüber von Architekten und funktionalisierte seine raumbezogenen Farbgebungen. Wie beispielhaft im Elisabeth-Krankenhaus zu studieren ist, begnügt sich Maartens Farbgestaltung nicht mehr mit der Ausschmückung, sondern bietet sich als ein innenarchitektonisches Leitsystem an. Sie übernimmt im Raum eine aktive Rolle.
Wir tragen Maartens Bilder in uns, und wir haben gelernt, durch sie die Welt neu zu entdecken. Einige seiner Motive prägen sein gesamtes Werk: Das Segel und der Wimpel, die Gräser und zerzausten Palmen, die zarten Blätter und das Flechtwerk, die Pfeile und die Boote, die Pyramiden und die Lochmuster – da, wo wir diesen Dingen begegnen, meinen wir, uns in Maartens Welt zu bewegen. Selbst in den Phasen, in denen Maarten in seiner Malerei jeden Bezug zum Gegenständlichen aufzugeben schien, tauchten einige dieser Formen als stilisierte Elemente auf. Irgendwie wusste sich der Erzähler zu behaupten.
Als Erzähler lernte ich Maarten kennen, als Zeichner und Grafiker. In der direkten Begegnung konnte er wortkarg sein. Er ließ erst einmal den anderen Zeit, zu entdecken, zu benennen und Fragen zu stellen. Umso beredter war er als Zeichner und Grafiker. Er holte die Motive aus seinem Inneren heraus und war oft selbst überrascht, wie er überwältigt wurde von den Formen und welche Verknüpfungen sich zwischen ihnen ergaben. „Ich bin gespannt, wie das weitergeht“, pflegte er zu sagen, wenn er in einer Ecke des Papiers zu zeichnen begonnen hatte. Unvergesslich ist mir, wie ich Maarten erstmals begegnete. Auf dem Göttinger Kunstmarkt wanderte ich von Koje zu Koje und sah Maarten mitten im Markttrubel selbstversunken sitzen. Er hatte einen Zeichenblock auf den Knien und zog mit der Feder zarte Linien. Das entstehende Bild hatte nichts mit der Umgebung zu tun. Vielmehr bediente er sich der Formen, die er in sich abgespeichert hatte.
Seine Zeichnungen und Grafiken haben oft etwas Leichtes, Spielerisches und Müheloses an sich. Dieser Eindruck wurde bestärkt, wenn er mit Ruhe und Gelassenheit, die Pfeife in der Hand, seine Atelierbesucher begrüßte oder ihnen seine Arbeiten präsentierte. Doch dieser Eindruck täuschte. Diszipliniert ging er morgens um halb neun ins Atelier, um zu arbeiten. Und wenn Ausstellungstermine näher rückten, Neujahrskärtchen zu drucken waren oder Tage des offenen Ateliers vorbereitet werden mussten, dann konnte er zielgerichtet und ausdauernd tätig sein. In einem Fall ging das bis zur körperlichen Erschöpfung, als er 1985/86 innerhalb von acht Monaten mit Grafit und Acryl 40 Zeichnungen schuf, deren Verkauf das Buch „Randbemerkungen“ finanzieren sollte, das seinerseits alle diese 40 Zeichnungen im Maßstab 1:1 abbildete.
Maarten war das, was man einen erfolgreichen Künstler nennt. Er hat einen großen Sammlerkreis um sich geschart, seine Werke sind von zahlreichen Museen angekauft worden, und er war in vielen Ausstellungen vertreten. Wenn sein Werk in den vergangenen 20 Jahren in Kassel in keiner repräsentativen Ausstellung zu sehen war, dann liegt das vornehmlich daran, dass sich in dieser Stadt keine Institution dafür verantwortlich fühlt, in regelmäßigen Abständen zu zeigen, welche Talente hier über Jahre tätig sind. Maartens Erfolg gründet natürlich in erster Linie in seiner Meisterschaft, in seiner Fähigkeit, immer neue Bilder zu erfinden und gleichwohl sich und seiner Bildsprache treu zu bleiben. Aber die erfolgreiche Durchsetzung seiner Arbeit verdankt Maarten vor allem auch Dir, liebe Christa, die Du für ihn Partnerin und Vermittlerin warst. Du hast die künstlerischen Träume geerdet, Du hast die Verbindungen geknüpft und einen großen Teil der organisatorischen und geschäftlichen Dinge erledigt und Du hast dazu beigetragen, den Sammlerkreis zu vergrößern. Auch wurden Oliver und seine Frau im Laufe der Jahre zu wichtigen Stützen und Förderern von Maarten. Nicht zu vergessen die langjährige Freundin und Galeristen Monika Beck.
Der Erfolg kommt nicht von selbst. Maarten hat das in den Anfangsjahren bitter erfahren müssen, als er zwar ganz anders, aber genauso überzeugend arbeitete. Mal musste er Gelegenheitsarbeiten ausführen. Dann wieder fertigte er Auftragsporträts an, um sich über Wasser zu halten. Es war die Zeit, in der er mit dem Realismus liebäugelte. Doch selbst in den realistischen Porträts blieb Maarten er selbst und durchmischte die Bilder derart mit Efeugewächsen, Palmeninseln und Wasserbergen, dass sie einen Zug ins Surreale erhielten.
Es gibt viele Künstler, die nicht die Bilder und Skulpturen von Kollegen um sich haben können. Das war bei Maarten anders. Er pflegte die Freundschaft mit Künstlern und legte zusammen mit Christa eine regelrechte Sammlung von Arbeiten befreundeter und vertrauter Künstler an. Diese Offenheit, ergänzt durch ein soziales Verantwortungsgefühl und die Lust zu gestalten, bewirkte, dass sich Maarten für andere aktiv einsetzte. Über viele Jahre engagierte er sich für den Berufsverband Bildender Künstler (BBK) und legte in Form eines Kataloges ein Mitgliederverzeichnis an. Er begründete – immer in Zusammenarbeit mit Christa – in den 70er-Jahren eine Ausstellungsreihe im Movie in der Jordanstraße und organisierte zweimal mit Erfolg einen Kasseler Kunstmarkt. Vieles andere wäre noch zu nennen – wie beispielsweise das Engagement für den viel zu früh gestorbenen Künstlerfreund Volker Hinniger und die Pflege seines Andenkens.
Maarten Thiel hatte sich im vergangenen Jahrzehnt eine neue Freiheit in der Malerei und Zeichnung erobert. Sein im vorigen Jahr erschienenes Buch „In Detail“ legt Zeugnis davon ab. Wir hätten also noch viel von ihm erwarten können. Doch seine Krankheit und sein Tod setzten einen Endpunkt. Nur ein Bild wurde in diesem Jahr fertig. Als Christa es zeigte, war sofort klar, dass es leitmotivisch auf die Trauerkarte gedruckt werden musste. Denn in diesem Bild steckt ein Stück Todesahnung. Es ist überraschend gegenständlich angelegt: Unter einem fahlen Himmel meint man, eine zweigeteilte Landschaft zu sehen. Vorne ist alles wie vom Schnee zugedeckt, wie eingefroren. In der Mitte aber bricht die Landschaft auf. Und ungewohnt düstere Farben setzen sich durch. Es ist, als hätte Maarten sein Ende erfasst, bevor jemand es benennen konnte. Im Nachhinein erscheint es beklemmend und tröstlich zugleich, dass er auch dafür ein Bild fand.

26. 9. 2008

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