DAS LEBEN DER DINGE

Zu Bildern von Rolf Escher

I
Eine runde Schüssel
Voll weichen Wassers
Weißes Emaille mit dunklem Rand
Schwamm und Bürste
Liegen bereit
Die Badende im Spiegel
Braucht sich nur umzudrehen

II
Aus kurzen, geraden Strichen
Eine Folge von Räumen
Nackt und weiß
Das einsame Licht
Unmerklich schwebt
Das Schattenbild der Birne
Davon

III
Die Stühle
Weggestellt und hochgestapelt
Nun können sie
Das unterbrochene Spiel
Lautlos vollenden
Die Einladung zum Sitzen
Hat der Lehnstuhl
Zurückgezogen
Decken, Kissen und Jacken
Machen sich‘s bequem
Das Tuch auf der Treppe
Sanft entglitten
Hat der gestreifte Bademantel
Ausgeplaudert?

IV
Wer spricht
Von Menschen
Wenn Schubladen
Vor Redelust überquellen
Und blinde Spiegel
Das letzte Wort behalten?
Das Urteil ist gefällt
Der Auszug vorbereitet
Mit kräftigem Strich
Gräbt sich der Verfall ins Gemäuer

V
Immer wieder das Licht
Die Hummer
Aus der Kiste lockend
Sanftes Grau
Wirft dünne Schatten
Mit gebundenen Zangen
Nach der Sonne greifen?
Messer und Gabel
Versprechen ein üppiges Mahl
Die Zeitung ist voll
Von Mordgeschichten

VI
Forschend der Blick
Ins eigene Gesicht
Über den Arkaden
Verlieren sich die Mauern
Im Nichts
Alles Theater
Kopflos die Artisten
In ihren venezianischen Schuhen
Über der Schraffur
Das Lob der Farben
Verhaltene Klänge
In Gelb, Braun, Rot und Blau
Die Koffer in Reih und Glied
Das Altersheim rüstet sich
Zur Reise
Tuschepfützen auf
Dem Markusplatz
Baden im kühlenden Schatten
Des Aquarells
Bei Florian
Einen Platz freihalten

Im Hotelfenster
Die blendende Mittagshitze
Die schöne Aussicht
Ist weggeschmolzen

VIII
Die beiden Schwestern
halten auf Abstand
I)as weiche Kissen
In der Mitte
Eine bleierne Wand
Durchschneidet
Das gemeinsame Sofa
Alt geworden
Im Stolz
Und die Gewissheit
Dass es nichts Schlimmeres gibt
Als ein Ende
Des Schweigens

IX
Aussichtslose Welt
Die weit aufstehenden Fenster
Mit Pech versiegelt
Die Spiegel um ihren
Verlässlichen Reflex gebracht
Innehalten beim Ziehen der Linie
Damit der Stift
Nicht schwatzhaft wird
Vertrauen
Auf die Kraft
Der Leere

September 1993

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