Erbsen zählen

Es gibt ein Totschlag-Argument. Das ist die Berufung auf die „Abstimmung mit den Füßen“. Die Besucherzahl wird immer dann herangezogen, wenn man beweisen will, daß etwas gelungen – oder daß etwas in die Hose gegangen ist. Und es gehört zum guten Gesellschaftsspiel, daß dieses Argument nicht in jedem Fall benutzt wird, sondern nur dann, wenn man inhaltlichen Auseinandersetzungen aus dem Weg gehen will.
Also heißt das nach diesem Muster: Die Ausstellung „Katharina die Große“ im Museum Fridericianum war gut und notwendig, weil sie mehr als 70 000 Besucher anlockte. Folglich sollte man in der Kunsthalle mehr solcher „Publikumsausstellungen“ ermöglichen. Forderungen dieser Art sind ganz in Ordnung
– solange sie nicht bedeuten, daß alles andere, was nicht von vornherein so populär und gut zu vermarkten ist, damit ausgeschlossen würde.
Aber die Liebhaber der großen Zahl beginnen nun, Erbsen zu zählen. Statt die gemeinsame (schwache) Front der Kunstfreunde zu stärken und das zusammenzuführen, was zusammengehört, nämlich populäre und experimentelle Kunst, dividieren sie auseinander und zählen (nahezu mit Schadenfreude) Erbsen. So werden dann zwei Kunsthallen-Ideen gegeneinander ausgespielt:
Wenn in die beispielhafte Schau „Echolot“ die Besucher nur tropfenweise gehen, dann wird das zum Vorwand genommen, Ausstellungen der ganz anderen Art zu fordern – Spitzweg zum Beispiel. Dabei wird immer wieder vergessen, daß Publikumsmagneten wie Spitzweg (man könnte van Gogh und Picasso nahtlos hinzufügen) zu ihren Zeiten keineswegs populär waren, daß sie sich erst durchsetzen mußten und daß die Erfolgswelle, auf der ihre Werke heute schwimmen, ganz andere Ursachen hat, als die Künstler damals bezweckten. Dabei wird aber auch übersehen, daß ein Weltereignis wie die documenta nicht im luftleeren Raum existieren kann.
Wenn man es recht bedenkt, hat die documenta-Idee hier noch nicht richtig gegriffen. Für Arnold Bode, den Begründer dieser Ausstellung, war die vitale Auseinandersetzung mit der aktuellen Kunst eine beständige Herausforderung. Die damals im Vier-Jahres-Rhythmus veranstaltete Ausstellung war für ihn nur die Kristallisation des Streites um Kunst. Unmittelbar nach Schließung der Tore ging die Diskussion weiter, und er hätte seine Freude daran gehabt, eine Kunsthalle auch für die Zwischenzeit zu haben. Das aber hat sich nicht herumgesprochen. Die documenta, in die alle gehen, die etwas auf sich halten, hat für die Beschäftigung mit der aktuellen Kunst selbst keine Folgen. So wartet man nur ab und schaut zu, ob sich jemand dafür interessiert. Darunter könnte am Ende die documenta selbst leiden.

HNA 23. 5. 1998

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