Bilder des zerrissenen Menschen

Mit einer Doppelausstellung wartet das Museum Fridericianum in Kassel auf. Der Schwerpunkt ist dabei in die Brüderkirche verlegt: „Die zehn Gebote“ von Keith Haring.

Von der alten, im Zweiten Weltkrieg zerstörten Kasseler Innenstadt sind nur wenige Zeugnisse geblieben. Eines dieser Baudenkmäler ist die gotische Brüderkirche, die seit Jahren zu Ausstellungszwecken oder für Aufführungen genutzt wird. Einige der Ausstellungen versuchten, einen Dialog mit dem Kirchenraum in Gang zu setzen. Meist gelang die Umsetzung aber nicht. Religiös inspirierte Bilder dokumentierten oftmals nur den guten Willen.

Jetzt aber sind zum ersten Mal Bilder in den Kirchenraum eingezogen, die es mit ihm aufnehmen können. Sie ordnen sich zwar den Säulenabständen und den Jochbögen unter, doch mit ihren 7,70 Metern Höhe und fünf Metern Breite, mit ihrer prallen Farbigkeit (gelb, rot, grün) und mit ihren plakativen Zeichen werden sie zur massiven Herausforderung. Der Amerikaner Keith Haring (1958 – 1990) hat sie gemalt, ein Künstler, der mit der Bildsprache und Unverbrauchtheit der Graffiti ab 1980 in die Kunstszene eindrang, der aber kein Untergrundkünstler war und der seine Homosexualität und später seine Aids-Krankheit thematisierte.

Auch als Keith Haring 1985 in nur wenigen Tagen die zehn Bilder zu den zehn Geboten malte, ging es um das, was ihn immer beschäftigte – um die Liebe und die Gewalt, um die Zerrissenheit des Großstadtmenschen, um seine Kultobjekte und seine Lust. So illustrieren „Die zehn Gebote“ Harings auch nicht die christlichen Grundsätze, sondern sie reagieren mit eigenen Bildern und Gedanken auf das, was die Kirchen lehren. Wohl gibt es eine Reihenfolge in der Bildserie, die Haring, als er 1985 die Großformate für die Arkaden des Museums in Bordeaux schuf, festlegte, aber er lieferte keine eindeutigen Zuordnungen zu den einzelnen Geboten.

Mehrere Bilder sind in unterschiedliche Richtungen deutbar, in anderen Fällen kehren sie die Aussagen um. Die Entscheidung, mit dieser Serie in die Brüderkirche zu
gehen, zeugt von Mut. Denn immer noch stecken Keith Harings Werke voller Provokation Aber sie haben in der Kirche ihren guten Platz gefunden, zumal sie mit ihrer Größe auch den Blick in die Höhe des Kirchenschiffs lenken. Osterwold hat die zehn Großformate in drei Formationen aufgegliedert. Im Seitenschiff wird der Eintretende von einer Dreiergruppe empfangen; dann gelangt man ins Hauptschiff, wo sich im rückwärtigen Teil zwei mal zwei Bilder gegenüberhängen; im Chorraum findet man noch einmal drei Werke, wobei der mutmaßliche Tanz um das goldene Kalb (Fernsehschirm mit Dollarzeichen) vor dem Altar steht.

Tilman Osterwold hat damit nach den „Collaborations“ (Warhol, Basquiat, Clemente) ein zweites Mal eine wichtige Werkgruppe für Kassel ausgegraben und er hat Keith Haring wahrscheinlich für viele Kunstinteressierte erstmals als ernsten Künstler bewußt gemacht. Die Ausstellung in der Brüderkirche hat er im Museum Fridericianum durch einige andere Werke aus Harings letzten Schaffensjahren ergänzt. Außerdem präsentiert er von Roberto Longo drei Werkkomplexe, von denen der eine (,‚Kreuze“) ebenfalls die religiöse Auseinandersetzung sucht. Auf diesen zweiten Teil werden wir später eingehen.

Die Ausstellung ist ein Beleg dafür, mit welcher Energie und Phantasie Osterwold die ihm kurzfristig angetragene Leitung der Kunsthalle im Museum Fridericianum ausgeübt hat. Jetzt allerdings ist ungewiß, wie es weitergeht. Stadt und Land haben sich zwar mehrfach für den Erhalt der Kunsthalle ausgesprochen, doch sind die Geldmittel knapp, und es müßte schon jetzt ein Nachfolger benannt werden, der die Planung für die Zeit ab 1998 betreibt. Warum sollte man angesichts der schwierigen Konstellationen nicht die jetzige Zwischenlösung noch einmal fortschreiben? Osterwold wäre ein Garant für Qualität und Innovation und wäre möglicherweise auch bereit.

HNA 31. 8. 1996

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