Für fünf Wochen ist das Museum Fridericianum in Kassel zu einem Zentrum der klassischen konstruktiven Kunst geworden. Die bis 26. Mai laufende Ausstellung des lettisch-russischen Künstlers Gustav Klucis wird nun ergänzt durch eine umfassende Werkschau die dem aus Ungarn stammenden Maler, Fotografen und Bauhaus-Lehrer László Moholy-Nagy (1895 1946) gewidmet ist. Wer sich für die Hauptströmungen der Moderne und dabei vor allem für die Wechselwirkungen von Malerei, Fotografie und Raumgestaltung interessiert, sollte diese Ausstellung nicht versäumen.
Vom künstlerischen Ertrag her ist die Moholy-Nagy-Ausstellung zweifellos die wichtigere. Gustav Klucis war zwar ein konsequenter Konstruktivist, doch er stellte einen wesentlichen Teil seiner schöpferischen Kraft in den Dienst der kommunistischen Propaganda und verengte damit seinen Spielraum. Moholy-Nagy hingegen, der erst nach einem abgebrochenen Jura-Studium und Kriegsdienst richtig zur Kunst gefunden hatte, sollte zu einem Pionier der Moderne werden.
Mit großer Entschiedenheit wurde der Zeichner und Maler Moholy-Nagy zum Konstruktivisten. Aus Geraden, Diagonalen, Kreissegmenten und Rechteckflächen schuf er zu Beginn der 20er Jahre Kompositionen, die gelegentlich auch direkte Berührungspunkte mit Entwürfen von Klucis (,Dynamische
Stadt) enthielten. Wie Klucis war auch Moholy-Nagy darauf bedacht, in die Breite zu wirken, mit der Kunst etwas zu erreichen. Doch Moholy-Nagy war kein Propagandist, sondern ein Mann ausgeprägten Formwillens und des Experiments.
Seine eigentlichen Pionierleistungen erreichte er dort, wo die klassischen Medien wie die Malerei an ihre Grenzen stießen. Über die Fotografie fand Moholy-Nagy ganz neue Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit dem Licht und seiner Wirkung im Raum. Während sich die malerischen Kompositionen in die zeittypischen Erfindungen einfügen, gelang es Moholy-Nagy, mit Hilfe des Lichtbildes neue Wege zu eröffnen.
Die Kasseler Ausstellung läßt sichtbar werden, daß MoholyNagy als Fotograf ein Gestalter war. Er überließ nichts dem Moment oder dem Zufall, sondern drückte den Motiven seinen persönlichen Stempel auf: Besonders gern fotografierte er von schräg oben und legte in relativ alltäglichen Szenen grafische Strukturen frei.
Zur Meisterschaft gelangte der Ungar in den 20er und 30er Jahren mit seinen Fotogrammen. Diese Form der kameralosen Fotografie (Gegenstände werden direkt auf lichtempfindlichem Papier abgebildet) führte ihn nicht bloß dazu, Hell und Dunkel umzukehren, sondern auch die Fläche zum Bildraum zu erweitern. Ebenso ertragreich waren Moholy-Nagys Experimente, Foto-Negative als Bilder (und nicht in Positive) umzusetzen).
Die schöpferische Arbeit von Moholy-Nagy gipfelte um 1930 in den Entwürfen für sogenannte Lichtrequisiten. Mit deren Hilfe ließ er das Licht, den Reflex und den Schatten den Raum erobern, ließ er die begrenzte Fläche hinter sich. Bereits 1986 war anläßlich der Ausstellung Wechselwirkungen in der Neuen Galerie in Kassel ein rekonstruierter Licht-Raum-Modulator zu sehen gewesen. Auch im Fridericianum bildet ein solches Lichtrequisit eine der Attraktionen in der Ausstellung. Das langsam rotierende Gerät verändert sich nicht bloß laufend, sondern wirft ständig neue Bilder in den Raum. Hier wird die Idee von Licht und Raum zur Vollendung gebracht (im Gegensatz zu den späten Malereien).
HNA 23. 4. 1991