Über den Jahreswechsel hinaus wird im Kasseler Museum Fridericianum eine kulturhistorische Ausstellung zu sehen sein, die sich mit dem europäischen Zeitbegriff beschäftigt: Geburt der Zeit.
Bis Ende voriger Woche hatten die zeitgenössischen Künstler das Sagen. Sie konnten unter dem Titel Chronos & Kairos ihr persönliches Verhältnis zur Zeit veranschaulichen. In den meisten Fällen stellten sie im Kasseler Museum Fridericianum Werke vor, die unser alltägliches Zeitverständnis unterlaufen und umkehren.
Jetzt wird im Fridericianum unter Federführung der Staatlichen Museen eine Ausstellung mit dem Titel Geburt der Zeit vorbereitet (12. Dezember bis 19. März), die einen oder gar mehrere Schritte zurückgeht. Da bilden das Zeitverständnis des 20. Jahrhunderts und die moderne Kunst das Ende der Präsentation. Im Mittelpunkt stehen die Bilder, Objekte und wissenschaftlichen Instrumente, die, beginnend mit der Vor- und Frühgeschichte, in mehreren Stufen das Entstehen eines allgemeinen Zeitbegriffs und die Herausbildung der unterschiedlichen Jahres- und Epochenbilder anschaulich machen sollen.
Möglich wurde das Ausstellungsprojekt durch die Zusammenarbeit der Staatlichen Museen mit den Unternehmen Wintershall und Gazprom. Ein Drittel der rund 650 Objekte wird aus den Moskauer Museen kommen. Im Anschluß an die Kasseler Präsentation wird die Schau von Moskauer Tretjakow-Galerie übernommen.
Ursprünglich hatten die Moskauer eine Marienausstellung vorgeschlagen. Die Tretjakow-Galerie, die bisher keine vergleichbaren Themenausstellungen gezeigt hat, hätte dabei aus einem unerschöpflichen Vorrat an Ikonenmalerei des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit schöpfen können. Da andererseits der Direktor der Staatlichen Museen, Hans Ottomeyer, seit längerem schon das Vorhaben einer Zeitenwende-Ausstellung verfolgte, wurden beide Ideen zusammengeführt.
Schließlich haben die Marien- und Madonnenbilder unmittelbar mit dem Entstehen eines neuen Zeitbegriffs zu tun: Unsere Zeitrechnung orientiert sich nicht nur an der Geburt Christi; seitdem ist das abendländische Zeitverständnis auch linear (von der Schöpfung bis zur Apokalypse) und nicht mehr zyklisch. Aber die christliche Zeitvorstellung (mit den Bildern zu den Festen) wird nur eine von mehreren Abteilungen sein. Die Ausstellung wird die Linien in die griechisch-römische und
ägyptische Antike zurückverfolgen, sie wird die Sonnen- und Mondfixierung in der Vorgeschichte an Hand archäologischer Funde dokumentieren und auch auf die jahreszeitlich bezogenen Volksbräuche eingehen. Neben den Kult- und Kunstobjekten werden aber auch die Meßinstrumente vorgestellt, mit deren Hilfe seit der Renaissance die Zeit in exakte Abschnitte unterteilt wird und die halfen, das kopernikanische Weltbild durchzusetzen – bis am Ende dann die Menschen zu Sklaven der Zeit wurden und an die Jahrhundertwechsel gesteigerte Erwartungen gerichtet wurden.
HNA 16. 11. 1999