Block: Weltweit den Dialog suchen

Am Samstag wird um 16 Uhr im Museum Fridericianum die Ausstellung „Das Lied von der Erde“ eröffnet. Den Direktor der Kasseler Kunsthalle, René Block, befragte dazu Dirk Schwarze.

Frage: Sie inszenieren im Stammhaus der documenta einen Dialog der Biennalen. Wollen Sie damit sichtbar machen, welcher Konkurrenz die documenta sich stellen muss?

Block: Sprechen wir lieber von Koexistenz. Natürlich sind die Zeiten, da der documenta und derVenedig-Biennale die Alleinvertretung in Sachen bildender Kunst zugesprochen wurden, vorbei. Im Gegenzug ist durch die vielen jetzt stattfindenden Ausstellungsevents eine gewisse Unübersichtlichkeit eingetreten. Mit der Ausstellung „Das Lied von der Erde“ und der Konferenz „Biennalen im Dialog“ wollen wir jetzt von Kassel aus versuchen, etwas Ordnung in die Biennalenwelt zu bringen. Wir beginnen im Fridericianum zunächst mit dem Dialog zwischen einigen Biennale-Städten und der documenta-Stadt Kassel. Im Vergleich der Orte wird eines sehr deutlich: Noch steht die documenta außer Konkurrenz zu den Biennalen, aber die Stadt Kassel als veranstaltender Ort steht in Wettbewerb zu Biennale-Städten wie Sydney, Istanbul, Venedig und neuerdings auch Berlin.

Weltweit gibt es eine Inflation der Kunst-Biennalen. Lange Zeit hatten wir in Deutschland nur Venedig und bestenfalls Säo Paulo im Blick. Doch gerade Venedig, die Mutter aller Biennalen, haben Sie in Ihrem Projekt nicht berücksichtigt. Warum?

Block: Das Wort Inflation klingt nach Entwertung. Ich sehe die Entwicklung positiv: Es wird in absehbarer Zeit noch viele neue Biennalen geben. Entscheidend ist jedoch nicht der Begriff „Biennale“, der zwar oft als Zauberwort benutzt wird, aber letztlich nur den Zwei-Jahres-Rhythmus vorgibt, sondern vielmehr, wie man die Biennale mit Inhalt füllt. Betrachten wir doch all die wunderbaren Sommer- Musik-Festivals, und wie sie sich ergänzen: Wagners Bayreuth ist eines der ältesten und machte Salzburg als wichtige Ergänzung nötig und wiederum all die anderen als eine logische Folge. Um auf Venedig zurückzukommen. Gute und geniale Ideen werden eben kopiert. Das Modell der Venedig-Biennale entstand aus der Idee des nationalen Vergleichs und Wettstreits in Kultur, Sport und Industrie gegen Ende des 19. Jahrhunderts, etwa zeitgleich mit dem Modell von Weltausstellungen oder den modernen Olympischen Spielen. Die „Mutter aller Biennalen“ verkörpert also, bei all ihrem Charme, ein veraltetes Weltmodell.

Die nach Nationen sortierte Kunstschau ist also ein Auslaufmodell?

Block: Diese Frage wird lange Zeit schon diskutiert und selbst in Venedig kritisch reflektiert. So kam man dort auf die Idee, eine zweite Großausstellung, „Aperto“, parallel stattfinden zu lassen. Die sieht jetzt aus wie die meisten anderen Biennalen, und die Qualität hängt – wie bei den anderen Biennalen auch – vom jeweiligen Kurator ab. Man will, wie man sagt, die „Mutter“ verjüngen. Venedig verspielt aber gegenüber den anderen Biennalen das Privileg, die erste und einzige akzeptierte Biennale mit dem Modell nationaler Präsentation zu sein. Die Kwangju Biennale hingegen verfolgte in diesem Jahr ein anderes Prinzip. Die Aufteilung fand nach Kontinenten statt. Für jeden Kontinent war ein Kurator zuständig, dem eine eigene Ausstellungshalle zur Verfügung stand.

Aber gerade Sie haben mit Ihrem Beitrag die Grenzen zwischen den Kontinenten Europa und Afrika außer Kraft gesetzt.

Block: Ja, und ich habe dann darauf bestanden, diese beiden Kontinente in einer Ausstellung zusammenzuführen. So entstand, weit entfernt von beiden Kontinenten, „Eurafrica“ mit Beiträgen von 20 Künstlern aus drei Regionen: dem Süden Afrikas, dem Norden Europas, also den skandinavischen Ländern, und dem Orient, da, wo Europa und Afrika sich begegnen.

Trägt die Eigendynamik der Biennalen auf den verschiedenen Kontinenten dazu bei, dass eine Ausstellung wie die documenta an Gewicht verliert?

Block: Genau das Gegenteil ist der Fall. Dadurch, dass Biennalen die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Kunstformen bis in den letzten Winkel der Welt aktivieren, gewinnt gerade eine Ausstellung wie die documenta an Gewicht, bekommt den verklärten Status eines Kunstolymps. Draußen verfügt die documenta über eine weitaus größere Ausstrahlung als im eigenen Land und speziell am eigenen Ort.

Bis in die 90er-Jahre war die documenta europäisch und atlantisch ausgerichtet. Noch Jan Hoet und Catherine David sprachen davon, Kunst aus Teilen von Asien und Afrika könne nicht in den Dialog mit der „Westkunst“ eingebunden werden. Jetzt aber hat die documenta einen künstlerischen Leiter, in dessen Biografie schon dieser Dialog angelegt ist. Und Sie demonstrieren nicht erst mit dieser Ausstellung, dass ein Weltkunst-Dialog möglich ist. Hat sich die Kunst an der einstigen Peripherie geändert? Oder hat sich der Blick der Kuratoren gewandelt?

Block: Beides ist der Fall als eine Folge der Biennalen. Wir können als Kuratoren ja nicht überall hinsehen, und so hat ein jeder seine Prioritäten. Jean-Hubert Martin beispielsweise gilt als Kenner der jungen afrikanischen Kunst. Harald Szeemann hat China für sich und uns entdeckt. Mein Interesse gilt dem Orient und Australien. Wir werden in der Ausstellung „Das Lied von der Erde“ sehen, dass in den sechs ausgewählten Biennale-Orten der so genannten „Peripherie“ – Johannesburg, Havanna, Sao Paulo, Istanbul, Sydney und Kwangju – lebendige Kunst gemacht wird, die uns neue Erfahrungen vermittelt.

Hat die neue Wahrnehmungsweise möglicherweise mit einer Ermüdung in der westlichen Kunstwelt zu tun?

Block: Diese Frage bietet Stoff für einen langen Diskussionsabend. Ich kann bei dem Versuch einer Antwort nur vereinfachen. Ich glaube nicht, dass die westliche Kunstwelt ermüdet ist. Allerdings haben sich hier – wie global – die Gewichtungen verlagert, und die Geschwindigkeit, mit der bestimmte Trends umjubelt und fallen gelassen werden, hat zugenommen. Es ist doch vielmehr so, dass sich immer neue aktive Zentren bilden, sofern ein anderes erschlafft. Die mediterrane und französische Kunst machen gegenwärtig vielleicht eine Durststrecke durch, dafür ist die britische wieder präsent – ganz zu schweigen von plötzlich sehr vitalen Szenen in Dänemark, Island oder Finnland mit hervorragenden künstlerischen Ergebnissen.

Die europäische Kunst hatte sich um 1900 ganz im Sinne des Kolonialismus archaischer Formen aus Afrika und Asien zur eigenen Spracherweiterung bedient. Findet nun zwischen den Kulturen auf der Kunstebene ein echter Austausch statt?

Block: Noch findet er nicht statt. Aber er beginnt. Das ist ein langer Prozess. Und wichtigstes Instrument in diesem Prozess sind die Biennalen.

Gibt es denn unverwechselbare kulturelle Charakteristika der acht Biennalen, die Sie in Kassel vorstellen?

Block: Es gibt die kulturellen und politisch unterschiedlichen Gegebenheiten der Orte, die sie veranstalten. So findet jede der Biennalen unter anderen Voraussetzungen statt. Sao Paulo und Havanna scheinen sich aus der Ferne zu ähneln, zwei Städte in zwei lateinamerikanischen Ländern. Die Organisatoren der Sao Paulo Biennale haben stets den Westkontakt gesucht und folgten dem Modell Venedig, bei dem die sich betreffenden Länder eigene Kommissare einsetzten, ihren Beitrag insgesamt verantworteten und finanzierten. Sao Paulo war für mich immer die unselbstständigste Venedig- Tochter. Hierarchisch geprägt vom Big Boss, dem Präsidenten. Jüngstes Beispiel der autoritären Struktur ist die fristlose Entlassung des künstlerischen Leiters der nächsten Biennale auf Grund einer öffentlich geäußerten Kritik. Ganz anders Havanna. Als einzige Biennale eines kommunistisch regierten Landes gegründet, kümmerte sich diese Biennale als Erste um die „Peripherie“, galt lange Zeit als „Biennale der Dritten Welt“, war immer die ökonomisch ärmste, in der Präsentation der Werke erfindungsreichste und vitalste Biennale.

Wie ist es möglich, die groß dimensionierten Ausstellungen durch zwei bis höchstens sechs Künstler zu repräsentieren?

Block: Es ging mir nur in zweiter Linie um den Versuch, die Biennalen selbst zu repräsentieren, die ja, bestimmt durch wechselnde Kuratoren, jeweils
anders erscheinen. Wichtiger Aspekt bei der Auswahl der Künstler und Exponate war das Anliegen, dieser Ausstellung selbst den Charakter einer Biennale zu verleihen. Also nicht andere Biennalen zu repräsentieren, sondern eine eigene kleine „Kassel Biennale“ zu kreieren, einen Platz der Kommunikation von Künstlern aus acht Ländern und eine Werkstatt, denn einige Arbeiten wurden für Kassel gefertigt.

Die Ausstellung wird, wie von Ihnen schon erwähnt, vom 3. bis 6. August durch einen Kongress ergänzt. Soll er zum besseren Selbstverständnis und zur Profilierung der einzelnen Ausstellungen beitragen?

Block: Die Ausstellung fokussiert acht Biennale-Orte. Die Konferenz, die unter dem Motto „Biennalen im Dialog“ steht, erlaubt eine globale Erweiterung. Eingeladen werden zusätzlich Organisatoren und Kuratoren der Biennalen Kairo, Dakar, Taipeh, Schanghai, Yokohama, Liverpool, Berlin, der Manifesta und viele andere. Man wird sich kennen lernen, Erfahrungen austauschen. Vielleicht einen Biennale-Kodex entwickeln und sich vielleicht auch in einer Organisation zusammenschließen. Mit Sitz in Kassel.

HNA 7. 6. 2000

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