Bilder von Meisterhand

1964 – Egon Schiele: Kauernde

Dreimal hatten Arnold Bode und Werner Haftmann inhaltlich die documenta geprägt. Gemeinsam waren sie zum Erfolgsteam geworden – Bode als der Motor, Macher und Inszenator und Haftmann als der Theoretiker der modernen Kunst. Die dritte Ausstellung erntete allerdings auch heftige Kritik. Sie sei zu sehr am Kunsthandel orientiert, hieß es. Auch wiederhole sie nur mit anderen Mitteln, was schon die documenta II gezeigt habe. Den Vorwurf, die Ausstellung schließe die aktuelle Kunstentwicklung aus, konnte im letzten Moment dadurch etwas entkräftet werden, dass in den Abteilungen „Bild und Skulptur im Raum“, „Aspekte 1964“ und „Licht und Bewegung“ auch neuere Tendenzen berücksichtigt wurden. Sie waren zu einem Teil ohne das Votum von Haftmann aufgenommen worden.

Trotzdem wurde die dritte Folge der documenta auch von denen gefeiert, die nichts von der Öffnung zu den „pseudomodernen Erscheinungen des Kunstbetriebs“ hielten. Die Zustimmung verdankten die Organisatoren der insbesondere von Werner Haftmann betreuten Abteilung „Handzeichnungen“. Schauplatz dieser wohlfeilen Ausstellung war die heutige Neue Galerie. Ein vergleichbares Unternehmen hatte es vorher nicht gegeben: Es wurden 500 Zeichnungen gezeigt, die rund 80 Jahre Kunstgeschichte spiegelten – 80 Jahre, in denen die Moderne die Sprache der Kunst von Grund auf veränderte. Die Ausstellung begann mit Meisterzeichnungen von Paul Cézanne, Georges Seurat und Auguste Rodin und sie endete bei Blättern von Asger Jorn und Emilio Vedova.

Wiederum war Bode in Zusammenarbeit mit seinen Mitarbeitern Rudolf Staege und Lorenz Dombois eine großartige Inszenierung gelungen: In der Galerie waren Reihen von Vitrinenkästen aufgestellt worden, die wie eine Folge von gleich großen Bilderrahmen wirkten. Die von innen beleuchteten Kästen, erlaubten es, die Gesamtbeleuchtung kräftig zu dämpfen. Diese Form der Aufstellung ließ keine äußerliche Hierarchie des Formats zu. Gleichzeitig erlaubte die konzentrierte Betrachtung der Zeichnungen.

Aus der Fülle der ausgesuchten Blätter kann hier stellvertretend nur eine Zeichnung vorgestellt werden – Egon Schieles 1912 geschaffenes Aquarell „Kauernde“. Der österreichische Maler Egon Schiele (1890-1918) gehörte zu den begnadeten Künstlern des frühen 20. Jahrhunderts. Er galt aber zugleich als Bürgerschreck, weil er sich über alle Tabus hinwegsetzte und in radikaler Offenheit Aktzeichnungen von jungen Frauen, Männern und Paaren ausführte. Schiele erregte deshalb so viel Aufsehen und Anstoß, weil er seine Figuren erbarmungslos den Augen der Betrachter auslieferte. Sie erscheinen doppelt nackt, hilflos und für manchen wohl auch verführerisch.

Schiele, der eine Zeit lang stark von Gustav Klimt beeinflusst war, stellte eine Brücke her zwischen dem Jugendstil und dem Expressionismus. Während seine Bilder vom Jugendstil gelegentlich die Lust am Ornament übernahmen, fand er in der expressionistischen Gestaltungsweise die Möglichkeit, seine Vorstellungen und Gefühle ganz direkt umzusetzen. Schieles Figuren wirken oft verdreht und kantig. Die Akte sind nicht barock überfließend, sondern schmal und knochig, manchmal überdehnt.

Die Kauernde bleibt für uns eine Unbekannte. Ihr dem Boden zugewandtes Gesicht sehen wir nicht. Zu ihrer Erkennungsmarke wird der braune, lockige Haarschopf. Er bildet das Gegengewicht zu den Beinen, die in blauen Strümpfen und schwarzen Schuhen enden. Obwohl der nackte Körper, den wir von schräg oben sehen, mit sanften Aquarellfarben klar ausgearbeitet ist (wir erkennen die Rückgratlinie) und obwohl wir Knochen- und Muskelpartien voneinander unterscheiden können, scheint es auf den ersten Blick so, als sei der Körper nur knapp umrissen, der Kopf und die Beine aber seien detailliert ausgeführt. Diese Täuschung bewirken allein die intensiv eingesetzten Farben, die den Kopf und die Beine heraushebt. Die Radikalität und die Rätselhaftigkeit der Zeichnung werden dadurch verstärkt.

Aus: Meilensteine – documenta 1-12

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