Ein Spiegel und die Liebe zum Ornament

1955 – Pablo Picasso: Mädchen vor einem Spiegel

Der Spanier Pablo Picasso (1881-1973) war 51 Jahre alt, als er das Bild „Mädchen vor einem Spiegel“ malte. Er war zu der Zeit erfüllt von der Liebe zu der fast 30 Jahre jüngeren Marie-The´re`se, der aus diesen Jahren zahlreiche Werke gewidmet sind. Um sie dreht sich auch diese Komposition, in der es um Begehren und Verehrung geht, um Schönheit und Vollendung, aber auch um Tod.

Der Künstler Picasso hatte seine Meisterschaft erreicht. Sie erlaubte es ihm, unbefangen mit den unterschiedlichsten Stilmitteln und Haltungen umzugehen und sie auf souveräne Weise zu vermischen. Das Gemälde „Mädchen vor einem Spiegel“ hing 1955 in dem großen Malereisaal, in dem die abstrakten Werke versammelt waren. Wir würden das Bild heute nicht unbedingt so einordnen. Zu klar tritt uns die figürliche Grundkonzeption entgegen, zu sehr ist alles auf die Körperlichkeit und das Ornament ausgerichtet.

Das Gemälde zählt zu den Hauptwerken Picassos. Im Jahre 2004 konnte das deutsche Kunstpublikum das Bild wieder sehen, denn es zählte zu den Meisterwerken, die das New Yorker Museum of Modern Art (Moma) an die Neue Nationalgalerie in Berlin ausgeliehen hatte.

Liest man einige der Interpretationen zu dem Bild, dann wird man zuweilen in Deutungen hineingezogen, die in dem Gemälde vornehmlich erotische Motive und sexuelle Symbole entdecken. Die runden und schwellenden Formen des Mädchens und seines Spiegelbildes unterstützen das. Insgesamt wirken diese Beschreibungen aber einengend. Sie führen am Wesen des Bildes und seiner gestalterischen Kraft vorbei. Eher helfen die Deutungen weiter, in denen die – bei aller Stilisierung und Abstraktion – sinnliche junge Frau als ein Wesen begriffen wird, das sowohl Heilige (Maria mit einer Art Heiligenschein) und Verführerin sein kann. Aber der Künstler blickt über die gegenwärtige Erscheinung hinaus, denn im Spiegel erscheint das rot geschminkte Mädchen als düstere Erscheinung, fast als Totenkopf. Jenseits der Begierde sieht Picasso das Ende und greift damit das Vergänglichkeitsmotiv auf, das vor allem in der Kunst des Barock seine Tradition hatte.

Anfang der 30er-Jahre hatte Picasso seine entscheidenden Entwicklungsstadien durchlaufen. Nach der Ausformung des Kubismus und der Auflösung der Formen in der Fläche hatte er sich in den 20er-Jahren einer neuen, fast klassizistischen Körperlichkeit zugewandt, um sich dann jene Freiheit zu nehmen, die ihm das Spiel mit allen Stilmitteln erlaubte. Im Umfeld dieses Gemäldes fertigte er fast konstruktivistische Skulpturen, voll plastische Büsten und realistische Zeichnungen.

Das „Mädchen vor einem Spiegel“ wirkt wie die Essenz aus allem. Im Sinne von Matisse ließ sich Picasso bei diesem Bild sehr stark vom Ornament leiten. Das intensiv farbige Muster der Tapeten schafft eine lebhaft geometrische Fläche, vor der die von Rundungen und Schraffuren beherrschte Doppelfigur zu sehen ist. Auf geradezu vollendete Weise gelang es Picasso, den Kopf und den Körper des Mädchens aus unterschiedlichen Perspektiven zu zeigen und doch als eine Einheit darzustellen. Vor allem der Kopf macht das deutlich: Man sieht das Gesicht gleichzeitig frontal und im Profil, ohne dass es zum irritierenden Bruch kommt.

Das Gemälde ist flächig angelegt, und der Körper scheint sich in seine einzelnen Formen – Kopf, Hals, Brüste, Bauch) aufzulösen. Dennoch rundet sich alles durch die schwarze Umrisslinie zur geschlossenen Form.

Wie in anderen Bilden aus der derselben Zeit nutzte Picasso den Spiegel nicht dazu, um die Mädchengestalt zu verdoppeln. Der Spiegel produzierte seine eigenen Ansichten: Die Farben und Körperpartien verschieben sich. Eine andere Gestalt tritt uns entgegen. Sie stört das heitere sinnliche Vergnügen, denn das nun auf das Profil reduzierte Gesicht wirkt düster und unzugänglich. In der Gegenwart kündigt sich die in der Zukunft liegende Vergänglichkeit an.

Aus: Meilensteine – documenta 1-12

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