Ein deutscher Abstrakter

1955 – Fritz Winter: „Komposition vor Blau und Gelb“

Seit zehn Jahren waren der Zweite Weltkrieg und der Nationalsozialismus überstanden. Zahllose Künstler, die mit Berufsverbot belegt worden waren oder dem Druck der nationalsozialistischen Kunstpolitik ausgesetzt waren, hatten nach 1945 einen Neuanfang versucht. Sie knüpften an die Tradition des Bauhauses an und bemühten sich um internationale Orientierung. Die abstrakte Kunst, die vor dem Krieg keineswegs die Hauptsprache der Kunst gewesen war, schien nun – angesichts der politischen Vereinnahmung des Realismus durch die Nazis und den Sozialismus – die einzig mögliche Ausdrucksform zu sein. Mit großer Kraft und Intensität schlugen deutsche Maler und Bildhauer den Weg der Abstraktion ein.

Als Arnold Bode und Werner Haftmann die erste documenta einrichteten, ging es ihnen nicht nur darum, den künstlerischen Aufbruch der Moderne durch Meisterwerke aus den ersten 20 Jahren des 20. Jahrhunderts zu belegen. Ihnen lag genauso daran, zu zeigen, dass jüngere Künstler diese Ideen aufgegriffen und weiter entwickelt hatten. Die Altmeister sollten den Weg der Jüngeren rechtfertigen helfen, zum anderen sollte sichtbar werden, dass die nachgewachsenen Generationen den Pionieren der Moderne etwas entgegen zu setzen hatten.

Vor allem Bode wollte zeigen, dass es einigen deutschen Künstlern gelungen sei, in der neuen Weltsprache der Abstraktion den Anschluss an die internationale Szene zu finden. Insofern ging er über den im Titel documenta eingeschlossenen Anspruch, die Ausstellung solle das Vorhandene dokumentieren, hinaus. Er wollte neue Akzente setzen, wollte zeigen, dass einige der Deutschen fähig seien, im direkten Vergleich mit den Größen der Kunst zu bestehen.

Deshalb schuf er im großen Malereisaal im Museum Fridericianum eine für damalige wie auch heutige Verhältnisse mutige, man kann auch sagen: dreiste, Konfrontation: An den beiden Stirnwänden des langen Saales platzierte er jeweils nur ein Gemälde, so dass die beiden Bilder automatisch als Hauptwerke verstanden werden mussten. Auf der einen Seite hing Picassos „Mädchen vor einem Spiegel“ aus dem Jahre 1932. Ihm gegenüber sahen die Besucher das erst im selben Jahr entstandene Gemälde „Komposition vor Gelb und Blau“ von Fritz Winter (1905-1976).

Fritz Winter war eben 1955 an der Kasseler Akademie zum Kollegen von Arnold Bode geworden. Der Schüler von Klee, Kandinsky und Schlemmer am Bauhaus in Dessau war einer der deutschen Maler, die sich schon in den 30er-Jahren eindeutig der Abstraktion verschrieben hatten. Viel hatte Winter von Kandinsky übernommen. Doch im Vergleich mit dem späteren Werk seines Lehrers hatte Winter seine Bilder malerischer und sinnlicher angelegt. Während Kandinsky sich Zug um Zug von der räumlichen Komposition abgewandt hatte und die konstruktiven Linien den Ton angeben ließ, schichtete Fritz Winter die Farbformen so, dass unwillkürlich Räume entstanden. Auch Winters monumentales Gemälde „Komposition vor Blau und Gelb“ war in dieser Weise aufgebaut: Die abstrakten dunklen Formen schwebten wie Wolken über den darunter liegenden Flächen. Es waren Kraftfelder voller Energie.

Der konsequente Weg, den Winter nach seinem Studium eingeschlagen hatte, führte dazu, dass er 1937 von den Nationalsozialisten mit Berufsverbot belegt worden war. Aber Winter ließ sich dadurch nicht beirren. Zielstrebig entwickelte er die allein sich selbst verpflichtete Malerei weiter und fand, als er 1949 aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrte, schnell den Anschluss an die internationale, vor allem nach Frankreich orientierte Szene.

Der Väter- und Lehrer-Generation, für die Picasso ebenso stand wie Kandinsky, setzte Bode mit dem Winter-Bild die Schüler-Generation gegenüber. Darin manifestierte sich eine Kernbotschaft der documenta. Doch diese kunstpolitische Entscheidung hatte für Winter und dessen Werk keine nachhaltigen Folgen. Das Wirkungsfeld des deutschen Malers blieb auf das eigene Land und bestenfalls auf den deutschsprachigen Raum beschränkt.

Aus: Meilensteine – documenta 1-12

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