Zwischen Bild und Skulptur

1964 – Emilio Vedova: Plurimi die Berlino

Der italienische Maler Emilio Vedova (Jahrgang 1919) zählt zu den documenta-Künstlern der ersten Stunde. Er wurde zu den drei Kasseler Ausstellungen von 1955, 1959 und 1964 eingeladen und hatte dann noch einmal 1982 seinen großen Auftritt in Kassel, als die Auferstehung der Malerei gefeiert wurde. Darüber hinaus hatte Vedova offenbar eine besondere Beziehung zu Kassel. Kein anderer Künstler ist auf frühen documenta-Fotos so oft als Besucher, Führer und Diskutant zu sehen wie der Venezianer.

So hünenhaft und in seinen Gesten weitausgreifend Vedova stets wirkte, so kraftvoll und expressiv ist seine Malerei. Sehr früh schon entschied sich Vedova unter dem Eindruck von Picassos Werk für die Abstraktion. Nach dem Zweiten Weltkrieg inspirierten ihn die informelle Malerei und vor allem das Action painting, die aus der Aktion entwickelte Malweise. Genau die entsprach seinem Wesen. Denn wenn man Vedova mit seinen Händen argumentieren sah, konnte man sich vorstellen, wie er heftig den Pinsel über die Leinwand fahren ließ. Dementsprechend bevorzugte Vedova große und ungewöhnliche Formate. Das Rechteck der Leinwand genügte ihm nicht mehr. Er malte auf kreisrunde Scheiben und spitz und kantig auslaufende Bretter. Darin steckte nicht nur ein universaler Anspruch der Malerei, sondern auch ein Protest gegen die Tradition.

Als 1964 innerhalb der documenta eine Abteilung Bild und Skulptur im Raum eingerichtet wurde, fanden Künstler wie Emilio Vedova und Bernard Schultze ihr ideales Forum, da beide an der Überwindung des Tafelbildes arbeiteten. Für beide lag es nahe, einzelne Formen aus dem Bild heraus zu lösen und sie als Skulpturen in den Raum zu stellen oder hängen oder die ungewöhnlichen Bildformate selbst wie Skulpturen zu behandeln und sie frei im Raum zu platzieren.

Vedova lebte zu der Zeit als Gast in Berlin. In der documenta zeigte er seine in Berlin entstandene Arbeit „Plurimi die Berlino“ (Absurdes Berliner Tagebuch). Das Werk war ein Vorgriff auf das, was vier Jahre später Environment genannt wurde oder was wir heute als Installation bezeichnen. Es besteht aus zahlreichen bemalten Brettern und Platten, die zum Teil durch Seile miteinander verbunden sind. Die einzelnen Elemente stehen sperrig im Raum oder hängen von der Decke, sie gliedern den Raum, bilden Wände und Durchgänge. Es ist, als hätten die malerischen Gesten die Formate gesprengt und die Bilder auseinander gerissen. Die Besucher traten in ein Kabinett, das manche damals als Geisterbahn empfunden haben mochten, in dem aber die Malerei endgültig den Raum eroberte und bizarre Formen annahm.

Emilio Vedova, der zu der Zeit als einer der Wortführer der expressiv-gestischen Malerei geschätzt wurde, fand bei vielen seiner Freunde kein Verständnis mit dieser radikalen Öffnung zum Raum. Für einige Jahre verschwand Vedova fast von der internationalen Bühne und hatte nur noch in der heimischen Biennale ein Forum. Mittlerweile hat sich das Verständnis gewandelt. Vedova gilt wieder als einer der großen Figuren der Nachkriegsmalerei, die dazu beitrugen, den Graben zwischen der Skulptur und der Malerei zu überwinden.

Wir können heute wieder Vedovas documenta-Arbeit von 1964 erleben und bestaunen: „Plurimi die Berlino“ ist eine der zentralen Installationen in der neu eingerichteten Berlinischen Galerie. Während Vedova seine Malerei später auf eine Schwarz-Weiß-Palette reduziert hatte, sprüht die Berliner Arbeit noch vor Farben. Man kann diesen kantigen Bilderwald durchlaufen, sich ganz von der Malerei einhüllen lassen. Man kann die gesamte Installation allerdings auch von der Galerie betrachten. Aus der Vogelperspektive verstärkt sich der skulpturale Charakter. Vedovas Arbeit wirkt so frisch und provokant wie vor 40 Jahren.

Aus: Meilensteine – documenta 1-12

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