1964 – Ernst Wilhelm Nay: documenta-Bilder A, B und C
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„Da hängen sie nun, schräg gestellt von der hohen Decke herab, im Fortschreiten als zusammenhängende Abfolge aufzunehmen, die drei Riesenbilder von E. W. Nay, die noch vor wenigen Monaten nur in der Phantasie des Auftraggebers Arnold Bode existierten und jetzt auf verblüffende Möglichkeiten vorausweisen, sie als feste Bestandteile des Raumes zu erleben.
Carl-Georg Heise schrieb das 1964 in seiner documenta-Kritik. Ein neues Zeitalter hatte in der Ausstellungsgeschichte begonnen. Arnold Bode hatte nicht mehr nur Werke für die documenta ausgewählt, sondern hatte eine Idee entwickelt, für deren Umsetzung er gezielt Künstler mit bestimmten Arbeiten einlud oder sie zur Herstellung von Arbeiten aufforderte. Das, was heute üblich ist, dass für eine Ausstellung eigens Werke angefertigt wurden, begann Bode 1964 pionierhaft.
Vor Bodes Augen wurden die alten Kategorien hinfällig. Skulptur und Bild kamen sich näher, vor allem die Gemälde sprengten den Rahmen und drangen in den Raum vor. Gleichzeitig nahm er damit Abschied von der Vorstellung, dass ein Bild Wandschmuck sei. Es war für ihn ein architektonisches Gestaltungselement. Also entwickelte Bode das Konzept Bild und Skulptur im Raum. Nach Carl-Georg Heise gelangte die kühne Planung nicht zur vollen Entfaltung. Aber die Besucher machten völlig neue Seherfahrungen. Der Italiener Emilio Vedova, der seit der ersten documenta regelmäßig mit seiner expressiven abstrakten Malerei in Kassel vertreten war, lockte die Besucher in ein dunkles, nur punktuell erleuchtetes Kabinett, in dem seine Tafelbilder förmlich zersprengt waren und wie Fetzen oder Torsi im Raum standen oder hingen. Die Malerei begann, auf neue Weise den Raum zu erobern. Noch weiter ging Bernard Schultze, der die Figuren seiner Malerei im Raum zu bemalten Körpern und Figurinen werden ließ. Und schließlich wurden die beiden Riesengemälde von Sam Francis wie Raumelemente präsentiert.
Bode schätzte und liebte die Malerei, ganz gleich, aus welchem Land sie kam. Er hatte den europäischen, den internationalen Blick. Trotzdem bemühte er sich immer wieder, den von ihm hoch geschätzten deutschen Malern einen angemessenen oder sogar hervorgehobenen Platz in der Ausstellung zu verschaffen. So forderte er schon 1963 Ernst Wilhelm Nay (1902-1968) auf, 3 Bilder im Raum als Raumbilder in der Farbfolge! zu malen. Diese Bilder, nahezu vier mal vier Meter groß, gehörten zu der Serie der Augenbilder und hatten die Farbfolge Rot-Grün, Blau-Rot-Gelb und Schwarz-Grau.
Im Vergleich zu den Arbeiten von Schultze und Vedova waren die drei Werke noch klassische Tafelbilder geblieben. Ihre sensationelle Kraft gewannen sie aber erst durch die Hängung. Bode hatte sie als strenge Bildfolge schräg unter die Decke gehängt. So verwandelten sie den Raum in eine Kathedrale, in der man andächtig nach oben blickt. Sie waren zum Ersatz für Fresken geworden. Allerdings durfte man nicht von hinten auf die Bilder schauen, denn dann blickte man auf die toten Rückseiten.
Nays Bilder gehörten dank der Inszenierung von Bode zu den am meisten diskutierten documenta-Werken. Sie bewegten sich wie die meisten Bilder des Künstlers auf der Grenzlinie zwischen Gegenständlichem und Abstraktion. Die figürlichen Anker in den Bildern waren die Augen, die auf magische Weise den Betrachter in ihren Bann ziehen. Trotzdem dominierte die sich frei entfaltende, auf die Kraft der Farbe vertrauende abstrakte Malerei.
Wie Baumeister, Beckmann, Boccioni, Marini oder Picasso war Nay 1964 zum dritten Mal in der documenta vertreten. Seine Herausstellung durch die Rauminszenierung weckte Neid und Kritik. Nach der documenta III begann eine lautstark geführte Diskussion über die Bedeutung und noch mehr über die Überschätzung von Nay. Angezettelt wurde der Streit von Hans Platschek, der selbst auch Maler war und nur in der documenta II vertreten war, sowie von Klaus-Jürgen Fischer. So erregt und heftig die Diskussion war, so wenig Nachhall hatte sie. Zwar konnte die documenta Nay nicht in die Reihe der international hoch gehandelten Künstler drücken, aber sein malerischer Rang ist heute unbestritten.
Nay hatte davon geträumt, mit seiner Malerei in die dritte und vierte Dimension (Raum und Zeit) vorzudringen. Insofern kam die ungewöhnliche Hängung seinen Vorstellungen sehr entgegen. Nach der documenta sind die Bilder bisher nie wieder in dieser Form präsentiert worden.
Aus: Meilensteine – documenta 1-12, B&S Siebenhaar, Berlin, 2. Auflage 2007: