Draußen vor der Tür

1992 – Thomas Schütte: Die Fremden

Die documenta IX bescherte eine Wiederkehr der menschlichen Figur. Der Friedrichsplatz wurde dabei zum Treffpunkt und Forum. Im Zentrum stand natürlich Borofskys „Man walking to the sky“ – eine männliche Figur, kräftig ausschreitend und nach oben strebend. Betrachtete man diese Skulptur von der Frankfurter Straße aus einiger Distanz, dann bildete sie einen deutlichen Kontrast zu der Arbeit von Thomas Schütte (Jahrgang 1954). Der hatte seine Figurengruppe „Die Fremden“ auf dem Portikus platziert, der als einziger Teil des im Krieg zerstörten Roten Palais erhalten geblieben ist. Heute wirkt der Portikus wie eine Attrappe, die an einen Kaufhausneubau angeklebt ist.

Immerhin nimmt der Portikus mit seinen Säulen die Sprache des benachbarten Fridericianums auf. Sein Dach bildet eine Bühne, und die hatte Schütte für seine Figurengruppe genutzt. Sie zog die Aufmerksamkeit vom Stammhaus der documenta, vom Fridericianum, ab und leitete sie auf das Nachbargebäude um, in dessen Schaufenstern im Erdgeschoss weitere Figuren zu sehen waren – eine Art Wachsfigurenkabinett, das Guillaume Bijl in der Auseinandersetzung mit der documenta-Geschichte geschaffen hatte.

Strotzte Borofskys laufender Mann vor Energie, wirkten Schüttes zehn lebensgroße Figuren starr, kraftlos und unbeweglich. Die glasierten Keramikfiguren sahen in ihrer lebhaften Farbigkeit zwar von weitem freundlich und heiter wie Kinderspielzeug aus, doch wenn man erkennen konnte, dass sie die Gesichter nach unten gewendet und die Augen geschlossen hatten, dann verflüchtigte sich der heitere Sinn.

Diese Menschen, die da zwischen Himmel und Erde standen, die nicht erreichbar waren und auch nicht näher kommen konnten, waren und blieben „Die Fremden“. Sie hatten Kisten, Säcke und Gefäße mitgebracht. Sie schienen aus verschiedenen Regionen der Welt zu kommen und auf der Flucht zu sein. Aber angekommen und geborgen waren sie noch nicht. Sie standen wie so viele Asylsuchende draußen vor der Tür.

So hatte der Maler und Bildhauer Thomas Schütte ganz nebenbei eine aktuelle politische Thematik angesprochen, ohne dass seine Arbeit eindeutig oder anklagend werden musste. Die Figurengruppe, von der der kleinere Teil dank eines Ankaufs durch das hinter dem Portikus verborgene Kaufhaus an Ort und Stelle bleiben konnte, lebt von der Offenheit und inneren Widersprüchlichkeit.

Thomas Schütte ist ein Künstler, der die Möglichkeiten der Skulptur immer neu ausprobiert. Fünf Jahre zuvor hatte er in der Karlsaue im Stil der Revolutionsarchitektur einen Eispavillon erbauen lassen. Nun knüpfte er mit den „Fremden“ an die Figurinen und Puppenmenschen an, wie sie die Künstler in den 20er-Jahren gestaltet hatten. Jan Hoet sah auch eine Verbindung zu den russischen Puppen und zur Volkskunst. In der Tat schöpfte Schütte aus zahlreichen Quellen. Er erinnerte aber nicht nur an brisante gesellschaftspolitische Fragen, sondern führte auch ein spannendes Spiel der Formen vor. Denn die Gefäße und Behältnisse, die die Fremden bei sich hatten, waren aus denselben Grundformen entwickelt wie die Figuren. Zugleich spürte man den malerischen Impuls. Denn die starke Farbigkeit der Figuren ließ eine in sich geschlossene Komposition entstehen.

Es war ein deutliches Signal, dass drei große Arbeiten auf dem Friedrichsplatz die Wiedergeburt der Figur in der Skulptur feierten. Die Besucher konnten drei verschiedene Gestaltungsweisen nebeneinander erleben. Während Guillaume Bijl mit hyperrealistischen Figuren überraschte, präsentierte Borofsky einen unaufhaltsamen Maschinenmenschen. Schüttes demütig wartende, aber doch stolze Figuren lenkten den Blick über sich und ihr Schicksal hinaus. Sie thematisierten vor allem den Gestaltungsvorrat, aus dem Figuren entstehen können.

Aus: Meilensteine – documenta 1-12

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