Ein Künstler als Leitfigur

1992 – Bruce Nauman: Anthro/Socio

Schon beim Betreten des Museums Fridericianum wurden die Besucher von den an die Nerven gehenden Klagelauten empfangen: „Help me, hurt me, Sociology, feed me, eat me, Antropology…“ (hilf mir, verletze mich, Soziologie, füttere mich, iss mich, Anthropologie) rief eine Männerstimme. Es war halb ein Hilferuf, halb ein Befehlston. Hatte man den umgebenden Gang von Peter Kogler mit seinen Ameisentapeten passiert, stand man mitten in der Video-Installation von Bruce Nauman (Jahrgang 1941).

In dem dunklen Raum war man umgeben von Großprojektionen eines kahlen Männerkopfes, der die Worte rief und sich dabei drehte. Denselben Kopf sah man auf aufeinander gestellten Monitorpaaren. Einige der Projektionen standen Kopf und gaben damit dem Gesamten einen spielerischen oder auch quälenden Charakter. In allen Videobildern sah man den kahl rasierten Schädel des Sängers Rinde Eckert. Der nackte Kopf wirkte fast noch bedrohlicher als die Rufe, die er ausstieß.

Nauman, der erstmals 1972 in der documenta vertreten war, hatte sich in seinen Arbeiten zunehmend auf Fragen der Bedrohung, Einengung, Gewalt und Angst konzentriert. In seinen Installationen schuf er unentrinnbare Situationen, in denen er sichtbar machte, was sich die Menschen gegenseitig und der Kreatur antuen. Die documenta-Arbeit „Anthro/Socio“, die kurz nach Ausstellungsschluss für die Hamburger Kunsthalle angekauft wurde, ist nicht so eindeutig. Ihr klagender Ton vertreibt und verfolgt zwar die Besucher, aber die Worte erschließen sich nicht sofort jedem.

Einen Zugang geben die beiden Begriffe, die für Wissenschaftsdisziplinen stehen: Soziologie und Anthropologie. Sie stehen für zwei Forschungsbereiche, die das Wesen des Menschen und sein Leben in der Gemeinschaft ergründen wollen. Und viele glauben, mit Hilfe der Erkenntnisse könne man Konflikte abbauen und die Gesellschaft verändern und gar verbessern. Dagegen steht aber die Erfahrung, dass die Bedrohung des Menschen durch den Menschen gleich bleibt. Der Mensch ist sozusagen der Gefangene seiner selbst.

Genau dies verdeutlichte die Installation, in der die Übermacht der Bilder und Klagelaute so stark war, dass die Besucher von ihnen total gefangen genommen wurden. Die Bedrohung wurde als körperlicher Schmerz spürbar. Bruce Nauman hatte damit den Grundton der gesamten Ausstellung angeschlagen. Es ging in der documenta IX um die sinnliche, die körperliche Erfahrung. Naumans Arbeit stand dafür genauso wie das Wohnklo von Ilya Kabakov, Mo Edogas „Turm der Hoffnung“, Jan Fabres an mehreren Stellen auftauchende Hand, die ein blaues Glas an die Wand hält, oder Mike Kellys bedrohliche Installation.

Der Amerikaner Bruce Nauman, der seit Ende der 60er-Jahre zu den wichtigsten internationalen Künstlern gehört, war für den Belgier Jan Hoet eine Leitfigur. Auch Hoet ließ erst spät einen Blick auf seine Künstlerliste zu. Lieber verwirrte er seine Zuhörer, indem er ihnen hunderte von Namen stichwortartig nannte, um deutlich zu machen, aus welcher chaotischen Fülle er schöpfen könne.

Doch von der ersten Minute an entwickelte er seine Gedanken und Pläne zur documenta IX mit Bezug auf Bruce Nauman und dessen Werk. Nauman war für ihn der Prototyp des zeitgenössischen Künstlers, der nicht mehr an ein Medium gebunden ist, sondern sich für jede Arbeit die passenden Ausdrucksmittel sucht. Er schuf beengende Räume, zeigte auf den Körper bezogene Arbeiten, gestaltete Skulpturen als Modelle der Gewalt und Folter und produzierte Videos, die heiter-melancholisch wirken.

In seinen Werken fordert Nauman die Besucher heraus. Sie können nicht länger unbeteiligte Betrachter bleiben, sondern müssen Stellung beziehen. Gleichzeitig schärft Nauman die Wahrnehmung. Und die wird dort besonders stark provoziert, wo wie in der documenta-Arbeit die Aussage nicht so eindeutig ist. Naumans Video-Installation war gewiss nicht die populärste Arbeit der documenta. Sie war aber das Werk, das sich am tiefsten in das Gedächtnis einbrannte.

Aus: Meilensteine – documenta 1-12

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