Zwischen Poesie und Schrecken

1987 – Ian Hamilton Finlay: Ein Blick auf den Tempel

Ähnlich wie Schneckenburgers documenta von 1977 lud die Kunstschau von 1987 zum Spaziergang in die Karlsaue. Zahlreiche Skulpturen und Installationen lockten in den Park. Einige von ihnen waren in der direkten Auseinandersetzung mit der barocken Parklandschaft entstanden.

Am Rand der Karlswiese hatte Thomas Schütte einen Pavillon aufstellen lassen, in dem sich die Skulptur zur benutzbaren Architektur entwickelte. Ihre Spannung gewann die Arbeit dadurch, dass sie sich der pathetischen Sprache der Revolutions-Architektur bediente, nun aber als Verkaufsraum für Eis genutzt wurde. Auf das Zeitalter der Revolutionen bezog sich auch der Schotte Ian Hamilton Finlay (Jahrgang 1925). Er hatte seinen Beitrag für die Achse entwickelt, die von der Karlswiese zur Schwaneninsel führt.

Die Achse stellt die visuelle Verbindung zwischen der Orangerie und dem Tempel auf der Schwaneninsel her. Für Finlay symbolisieren die beiden Bauten zwei Jahrhunderte, zwei Zeitalter: Während die barocke Orangerie eine Schöpfung des frühen 18. Jahrhunderts ist, wurde der klassizistische Pavillon zu Beginn des 19. Jahrhunderts erbaut. Der Weg ihnen kann also auch als Zeitachse verstanden werden, als die Strecke, die das 18. Jahrhundert durchmisst. Und dieses Jahrhundert hat eben nicht nur die Schönheiten der Architektur hervorgebracht, sondern auch die größte politische Umwälzung, die französische Revolution.

Die Revolution, die so hoffnungsvoll als Selbstbefreiung der Menschen begonnen hatte, endete bekanntermaßen blutig. Der französischen Revolution haben wir deshalb neben den Freiheitsrechten auch die Tötungsmaschinen, die Guillotinen, zu verdanken. Um an dieses Zwischen zu erinnern, an den Terror, der sich nach dem Bau der Orangerie und vor dem Bau des Tempelchens ereignete, ließ Finlay auf der Parkachse vier übergroße Guillotinen aufstellen.

Durch ihre Streckung wurde den Guillotinen etwas von ihrem Schrecken genommen. Sie wirkten erhaben wie die Arkaden eines klassizistischen Gebäudes. Dennoch waren die Fallbeile, die Schneiden, als ständige Bedrohung nicht zu übersehen. Auch die Inschriften, die die Fallbeile trugen, wiesen in diese Richtung. Eine der Inschriften lautete (in deutscher Übersetzung): Ängstige mich, wenn du willst, aber lass den Schrecken, den du in mir erregst, gemildert sein durch eine große moralische Idee.“

Der Blick und der Gang zu dem Tempel mussten also durch die Symbole des Schreckens hindurch. Ein Verdrängen war nicht länger möglich. Finlays eindringliche Installation führte vor, dass Schönheit und Gewalt, Erhabenheit und Terror nicht aus zwei verschiedenen Welten kommen, sondern als die zwei Seiten einer Medaille eine Einheit bilden.

Die Arbeit war nicht nur auf die Parklandschaft bezogen. Der Park wurde vielmehr Teil der Installation von Finlay. Denn das ganze Areal zwischen Orangerie und Pavillon auf der Schwaneninsel wurde von dem Künstler als Teil seines Werkes definiert. Damit war diese ein Beitrag zur grenzenlosen Ausdehnung des Skulpturbegriffs und zur Verortung der Kunst in einem bestimmten Raum. Finlays Guillotinen hätten zwar auch an anderen Punkten der Erde stehen können. Doch nur in diesem spezifischen Raum des Parks erhielt die Arbeit die beschriebene Bedeutung.

Bereits 1977 hatte sich diese Erweiterung der Skulptur in mehreren Arbeiten angedeutet. Auch George Trakas hatte mit seinen Stegen auf die in der Karlsaue vorhandenen Achsen geantwortet. Aber mit der Störung der barocken Linien verband sich keine inhaltliche Umdeutung. Die jedoch folgte unübersehbar mit Finlays Guillotinen. Der schottische Künstler hatte nämlich in die historische Anlage ein Element eingebracht, das aus der Geschichte nicht ausgeklammert werden kann, das aber dort, wo es um Entspannung und Erbauung geht, gerne übersehen wird.

Aus: Meilensteine – documenta 1-12

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