1987 Tadashi Kawamata: Destroyed Church
Bereits 1977, als Manfred Schneckenburger zum ersten Mal die documenta organisierte, setzte er auf eine expansive Ausstellung. Die Skulpturen und anderen plastischen Arbeiten waren nicht nur auf sich selbst bezogene Objekte, die irgendwo im Stadtraum ihren Platz brauchten, sondern einige dieser Beiträge wurden erst in der Auseinandersetzung mit der Landschaft und dem Stadtraum entwickelt. Die Arbeiten definierten die Landschaft neu, setzten Zeichen und waren gelegentlich auch Diskussionsvorschläge zur Stadtentwicklung. So lenkte die 1977 im Zwehrenturm installierte Laserskulptur die Aufmerksamkeit auf die Stadtachsen und die Abweichungen davon.
Zehn Jahre später erhielt Schneckenburger die Chance, zum zweiten Mal seine Ideen von der landschaftsbezogenen Skulptur zu verwirklichen. In jenem Jahr lud er gleich mehrere Künstler ein, die sich mit der Stadt und ihren Bauten auseinander setzten. George Trakas, der 1977 mit dem System seiner Stege in der Karlsaue eine der wichtigsten Arbeiten installiert hatte, scheiterte allerdings 1987 mit seinem Plan, durch Stege, Podeste und Brücken dem Königsplatz eine neue Gestalt zu geben. Trotzdem war sein Beitrag in den Ansätzen anregend und indirekt Vorbild für die spätere (ebenfalls gescheiterte) Treppenkonstruktion für den Königsplatz.
Nur wenige Schritte vom Königsplatz entfernt steht die Ruine der Garnisonkirche. 1987 war die bis auf ihre Außenmauern zerstörte Kirche ein kaum beachtetes Trümmerfeld, das ohne Zukunft schien und nicht einmal zur Gedenkstätte taugte. Der Japaner Tadashi Kawamata (Jahrgang 1953) nahm sich der Ruine an, um sie ins Bewusstsein zu heben und ihr eine neue Kraft zu verleihen. Kawamata, der als Maler, Objektkünstler und Architekt tätig war, hatte schon andernorts Arbeiten entwickelt, mit denen er gegebene Stadträume und Architektur neu definierte: Er ummantelte Gebäude mit einer Konstruktion aus Latten, brach damit die vorgefundene Architektur auf und erweiterte sie.
Dabei gehörte es zur Arbeitsweise Kawamatas, dass er die Holzlatten und Bretter, die er für seine Arbeit brauchte, in der Umgebung des Ortes suchte, an den er eingeladen war. Das war die stillschweigende Voraussetzung, dass er die Hölzer, die im Strom der Zeit weggespült und zu Strandgut, also Abfall, geworden waren, wieder einsetzte. So konnte er die eine historische Schicht mit Materialien aus einer anderen Zeit kommentieren.
Seine Ummantelung der Garnisonkirche sollte zu einer der besten und faszinierendsten Beiträge zur documenta 8 werden. Den rechteckigen Grundriss der Kirchenruine umgab Kawamata mit einer spiralförmigen Kreisfigur, deren Zentrum im Innern der Kirche lag. Wer die Möglichkeit hatte, die Arbeit von oben zu sehen (am Modell, das in der Neuen Galerie in Kassel steht, kann man das heute noch sehen), der hatte den Eindruck, auf einen Strudel zu blicken. Es war, als würden die Bretter, die aus den leeren Fensterhöhlen herauskamen und die Kirchenmauern wie ein Strom umschlossen, ins Innere hineingesogen.
Die sich sonst selbst überlassene, wie tot wirkende Ruine, erwachte zum Leben. Die Formen weichten auf, vor allem aber schien eine kreisende Bewegung die Ruinen zu erfassen. Die Konstruktion glich zudem einer plastischen Zeichnung, bei der die kräftige, gestische Strichfolge ins Objekthafte übertragen worden war. Dass nach Ende der documenta die Diskussionen um die Zukunft der Garnisonkirche nicht verstummten, ist sicher dieser Arbeit zu verdanken. Heute wird die instandgesetzte Ruine als Restaurant genutzt und ist zu einem attraktiven Zentrum geworden.
Fünf Jahre später war Kawamata nochmals nach Kassel eingeladen worden. Auch 1992 arbeitete er wieder mit Holzlatten. Allerdings schuf er sich nun seinen eigenen Bezugsrahmen und baute in der Aue ein Hüttendorf, das nur diejenigen romantisch finden konnten, die kein Gespür für die Obdachlosen und Flüchtlinge rund um die Welt haben.
Aus: Meilensteine – documenta 1-12