Im Zeichen des Wachstums

1982 – Mario Merz: Isola (Insel)

Es war ein großartiges Entree: 1972, als in der Rotunde des Museums Fridericianum noch das zentrale Treppenhaus bestand, das in einem eleganten Bogen nach oben führte, hatte der Italiener Mario Merz (1925-2003) seinen Beitrag am Fuß des Treppenhauses platzieren können – ein weißer Iglu am Treppenfuß und ein Motorrad, das die Steilwand des Treppenhauses hoch zu fahren schien. Dazu eine Reihe von Zahlen, die aus Neonröhren bestanden. Ein wunderschönes, zum Träumen einladendes Bild. Der Iglu bot symbolisch Geborgenheit und Zuflucht. Er war wie viele spiralförmig konstruierte Bauten von Mario Merz in seiner Ausdehnung an der Zahlenreihe des Mathematikers Leonardo Fibonacci (1180-1240) ausgerichtet. Die Reihe ist nach einem einfachen Prinzip aufgebaut: Eine Zahl ergibt sich stets aus der Summe der beiden vorherigen. So entsteht eine Abfolge, die mit einem langsamen Wachstum beginnt, um dann förmlich zu explodieren: 1-1-2-3-5-8-13-21-34-55-89… Das die Steilwand hinauffahrende Motorrad symbolisierte in einer anderen Form das potentielle Wachstum, die rasche Ausbreitung, die Geschwindigkeit. Dabei war das Motorrad nicht nur ein Stück Technik, mit seinem Lenker, der in Tierhörnern endete, wurde zugleich die Hinwendung zur Natur angedeutet.

Das Zahlensystem von Fibonacci war für Merz zum Leitsystems seines Denkens und Arbeitens geworden. In ihm sah er die Gesetze des Wachstums beschrieben und in ihm fand er die Grundlagen für seine Konstruktionen. Die Zahlen tauchen in seinen Zeichnungen ebenso auf, wie sie als Neonreihen seine plastischen Arbeiten begleiten.

Nachdem Merz 1977 in der Abteilung für Handzeichnungen der documenta vertreten gewesen war, hatte er 1982 erneut einen großen Auftritt. Im Fridericianum stellte er seinen raumgreifenden Spiraltisch (Isola) aus, dessen Bauweise sich ebenfalls an der Zahlenreihe orientierte. Der Tisch aus Glas und Stahl, an den große Sandsteinplatten gelehnt sind und aus dessen Öffnungen Reisigbündel herausragen, ist alles andere als ein Design-Objekt. Er ist eine große Skulptur, in der sich Technik und Kultur mit der Natur verbinden. Die Arbeit erscheint so, als würde die Natur mit ihren Sendboten (Sandsteinplatten und Reisigbündel) die Zeugnisse der gebauten Kultur überwuchern und zurückerobern. Das Werk ist heute eines der zentralen Objekte der Neuen Galerie in Kassel.

Mario Merz ist einer der Hauptvertreter der Arte Povera, die sich in den 60er-Jahren in Italien herausbildete – parallel zu den Projekten von Joseph Beuys. Arte Povera, wörtlich übersetzt: arme Kunst, meint Kunstwerke, die aus armen, das heißt einfachen und alltäglichen Materialien geschaffen wurde. Dass sich ausgerechnet in Italien diese Kunst entwickelte, hat mit der Übermacht der Klassik und ihren Zeugnissen in Marmor zu tun. Künstler wie Merz haben unter der Last dieser Überlieferung gelitten und Auswege zu einer neuen Einfachheit und Klarheit gesucht. An die Stelle der Säulen und Tempel setzte er den Iglu; die klassische Reinheit verscheuchte er mit Hilfe von direkt aus der Natur entnommenen Materialien.

Die Reisigbündel in dem Spiraltisch sind zwar abgestorbene Natur. Trotzdem triumphieren sie mit ihren wuchernden Formen über das aus Stahl und Glas gebaute Objekt. Zugleich stellen diese Bündel eine Verbindung zu den Zeichnungen her, die Merz stets parallel zu seinen Objekten geschaffen hat.

1992 war Merz ein weiteres Mal Gast der documenta. Da lud ihn Jan Hoet ein, die eine große Wand der gerade erbauten documenta-Halle zu gestalten. Obwohl auch dort Merz mit seinen Reisigbündeln und Neonzahlen operierte, konnte er der Wand keine plastische Form abgewinnen. Dafür erlebte man in Kassel aber zum ersten Mal seine künstlerische Vielfalt. Denn über der am Fuß der Wand aufgestellten Reisig-Reihe, hingen farbkräftige Bilder, die daran erinnerten, dass Mario Merz auch Maler war. Die Bilder wirkten in diesem Fall überzeugender als der Ansatz zu einer plastischen Arbeit.

Aus: MEilensteine – documenta 1-12

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