Die neue Kraft der Malerei

1982 – Per Kirkeby: Ohne Titel

Aufbruchstimmung herrschte. Die documenta 6 hatte zwar eine Fülle von malerischen Formen vorgestellt, doch diese ausufernde und leicht chaotische Übersicht hatte wie ein Abgesang auf die Malerei gewirkt. Anderes schien wichtiger zu werden. Kurze Zeit später aber wandelte sich das Bild. In Italien und in den Niederlanden, im Rheinland und in Berlin, in Dänemark und in den USA eroberte eine neue Malergeneration die Szene. Junge Künstler, von denen viele die Konzeptkunst verinnerlicht hatten, kehrten unbekümmert zur Leinwand zurück, hatten weder Scheu vor dem Erzählerischen noch vor dem Expressiven. Unter Schlagwörtern wie „die neuen Wilden“, „heftige Malerei“ oder „Neo-Expressionismus“ eroberten die Maler die Galerien und Ausstellungshallen, wobei sie von Teilen der Kunstkritik und der Ausstellungsszene heftig befehdet wurden.

Die Ausstellungen, die nicht nur die Tendenz spiegelten, sondern das Phänomen sorgfältig untersuchten, widerlegten die Behauptung, dass es sich bei dieser Malerei nur um eine kurzlebige Mode handele. Denn sie brachten die Maler mit ins Spiel, die schon seit Jahren in dieser Richtung arbeiteten und die für die Jüngeren Vorbildcharakter hatten: Georg Baselitz, Markus Lüpertz, Anselm Kiefer, Sigmar Polke, Jörg Immendorff, A. R. Penck, K. H. Hödicke und Per Kirkeby. Für Rudi Fuchs gehörten diese Künstler zu den Meistern (Helden), denen er in der von der Malerei beherrschten documenta die wichtigsten Plätze reservierte.

Der Däne Per Kirkeby war unter den genannten Künstlern ein Sonderfall, denn seine Malerei repräsentiert nur eines der Felder, auf denen er sich betätigt: Kirkeby schreibt Texte und zeichnet, er baut strenge Backsteinskulpturen und pflegt eine selbstversunkene Malerei, die der sinnlichen Kraft der Farbe huldigt, die von Stimmungen und Landschaften erzählt, sich aber nicht eindeutig festlegen lässt.

Seine Bilder erzählen keine Geschichten, sie dokumentieren einfach die Lust am Malen. Hell- und Dunkeltöne werden in Kontrast zueinander gesetzt, dann wird wieder übermalt, und die neue Schicht bleibt als eine Folge von Pinselstrichen stehen. Die um 1980 entstandenen Gemälde verweigern jede Eindeutigkeit und Klarheit. Sie wirken bisweilen chaotisch, weil sich die Farben in keine Formen pressen lassen, sondern wie absichtslos zueinander finden. Eines dieser Gemälde wurde aus der documenta 7 für die Neue Galerie angekauft. Die Komposition scheint an die informelle Malerei der 50er-Jahre anzuknüpfen, ist aber in erster Linie ein Beleg für die neu gewonnene Kraft der Malerei.

So formlos die Farbflecken und so wild die Mischungen sind, so nordisch streng sind Kirkebys Backsteinskulpturen. Der Däne war mit beiden Ausdrucksformen in der documenta vertreten. Hinter der Orangerie hatte er unter den Bäumen eine Skulptur in Form eines geschlossenen Hauses erbauen lassen. Der Bau war von einer schlichten Schönheit. Er verwies auf eine Schule der Kunst, die erst Jahre später ihre Blüte erleben sollte – nämlich die Auseinandersetzung der plastisch arbeitenden Künstler mit der Architektur. Backsteinskulpturen, wie sie Kirkeby schuf, waren zugleich Gegenstücke zur damals wuchernden Postmoderne in der Architektur.

Allerdings verbindet sich mit der Erinnerung an diese Skulptur eine unrühmliche Geschichte. Per Kirkeby war bereit, seine Arbeit hinter der Orangerie stehen zu lassen und der Stadt Kassel als Geschenk zu übereignen. Aber so recht freuten sich die Beschenkten nicht. Außerdem entstand im Vorfeld der folgenden documenta die Frage, ob die Arbeit nicht die neuen geplanten Außenskulpturen störe. Kurz, die als Geschenk angebotene Skulptur wurde in einer Nacht- und Nebelaktion abgerissen, obwohl das Vorhaben in der Kunstwelt einen Proteststurm ausgelöst hatte. Immerhin führte die Aufregung dazu, dass später als kleiner Ersatz die Bronzestudie für die Backsteinskulptur der Neuen Galerie gestiftet wurde. Und schließlich war Kirkeby 1992 bereit, in der Verlängerung der documenta-Halle eine zweite Skulptur für Kassel bauen und auf Dauer stehen zu lassen. Und die wurde noch nicht abgerissen.

Aus: Meilensteine – documenta 1-12

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