Bilder aus dem Vorratslager

Unter dem Titel „Eine Innere Mongolei“ werden in Weimar Zeichnungen und Malereien von Joseph Beuys gezeigt. Ausstellung und Katalog tragen viel zum Verständnis von Beuys‘ Werk bei.

In diesen Wochen besteht in unserer Region eine wohl einmalige Chance, das Werk von Joseph Beuys (1921 – 1986), der einer der wichtigsten und zugleich umstrittensten Künstler unseres Jahrhunderts war, in einer umfassenden Weise zu studieren: Ausgehend von dem komplexen Beuys-Raum in der Kasseler Neuen Galerie und den „7000 Eichen“ in Kassel dokumentiert das Museum Fridericianum ab 5. September Beuys‘ documenta-Arbeiten. Parallel dazu werden in der Kasseler Antikensammlung Zeichnungen und plastische Bilder von Beuys zur Antike gezeigt; dazu kommen Galerie- Ausstellungen, Vorträge und Tagungen. Bereits eröffnet wurde in der Kunsthalle Weimar die Ausstellung „Eine Innere Mongolei“, in der rund 150 Zeichnungen und malerische Arbeiten von Beuys aus der Sammlung van der Grinten vorgestellt werden.

Diese Beuys-Schau, die 1990 in Hannover ihren Anfang nahm und zwischenzeitlich in Barcelona, Petersburg und Moskau zu sehen war, führt in das geistige und bildnerische Vorratslager des rheinischen Künstlers. Sie verweist einmal auf jenen biographischen Einschnitt, der erfolgte, als Beuys 1943 als Sturzkampfflieger über der Sowjetunion abgeschossen wurde und er von Tataren mit Filz, Fett, Honig und den Kräften der Schamanen ins Leben zurückgeholt wurde. Und sie lenkt den Blick auf die große politisch-künstlerische Vision, die Beuys von einem Ost-West- Bündnis, einem eurasischen Lebensraum hatte.

Noch bevor Joseph Beuys in den 60er und 70er Jahren in der Öffentlichkeit als künstlerische Gestalt sichtbar und spürbar wurde, entwickelte er in seinen Bildern den Raum, in dem sich sein Denken und Handeln vollzog: Die Schamanen und die Bienenkönigin stehen für die Verschmelzung von natürlicher Kraft und menschlicher Aktion, der Elch und der Schlitten symbolisieren Wanderung und Bewegung, Dschingis Khan und die Nornen verheißen die Verbrüderung von Europa und Asien. Dem antiken Mythos des Stiers, der die Europa auf seinem Rücken entführt, stellt Beuys das Bild des Eichs entgegen, der eine Frau durch die Weite trägt. Während das Europa-Motiv im Laufe der Jahrhunderte zu einem lustvoll erotischen Thema der Kunst geworden ist, gestaltet Beuys seine Variation nüchtern und trocken. Es scheint, als würden bei ihm Mensch und Tier eins: Immer sah er die Frau als die Bewahrerin der natürlichen
Kräfte für die menschliche Existenz.

Die Bilder von Beuys haben etwas Archaisches. Mit dem Pinsel knapp hingeworfene menschliche und tierische Gestalten könnten Höhlenmalereien sein. Nicht die Individualität ist das Ziel, sondern der Typus, der Ausdruck und die Bewegung. Daneben finden sich mit Kraft und Energie entwickelte Zeichnungen, die mit ihrem festen und doch nervösen Strich zuweilen an Egon Schiele erinnern. Es ist, als würde man die Figuren sehen und zugleich wie bei Röntgen- aufnahmen in ihre Körper hineinschauen.

Obwohl Joseph Beuys jedes dieser Bilder auf eine eigene Weise anging und die zeichnerischen und malerischen Mittel sehr unterschiedlich einsetzte, wird in diesen Werken aus den 50er und frühen 60er Jahren seine Handschrift sichtbar. Die Ausstellung ermöglicht einen sehr schlüssigen Zugang zum Werk von Beuys. Hervorragend unterstützt wird sie dabei durch den begleitenden Katalog – insbesondere durch die Textbeiträge von Götz Adriani, Carl Haenlein und Franz Joseph van der Gnnten sowie das Interview, das Keto von Waberer mit Beuys führte.

HNA 28. 8. 1993

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