Kunst als Lebensvollzug

Als er 1974 sein Medizin- studium mit Staatsexamen und Promotion beendet hatte, wurde sich Wolfgang Laib klar darüber, daß er viel über die Bausteine des Lebens wußte, daß er damit vom Wesen des Lebens aber noch nichts verstanden hatte. Folglich wurde er nicht Arzt, sondern begann ein alternatives Leben eigener Art.

Auf der Suche nach einem ganzheitlichen Lebensprinzip fand Laib zurück zu Formen nichtverfremdeter Arbeit: In einer Zeit, in der jede Arbeit schnell verrichtet werden muß, weil sie sonst zu kostspielig würde, entdeckte er für sich die fundamentalen Arbeitsabläufe neu und begann (gegen jeden Zeitdruck) mit der Natur zu arbeiten. Beispielsweise schleift Laib mit Hilfe von Sandpapier und Wasser millimeterstarke Vertiefungen in Platten aus weißem Marmor. Diese auf dauernde Haltbarkeit ausgelegten Flachkörper füllt er mit einem ebenso weißen, aber schnell verderblichen Saft – mit Milch. Durch die Auffüllung mit Milch wird der Effekt des Ausschleifens aufgehoben; es entsteht ein spiegelndes Objekt, das die Spannung zwischen massivem Gestein und unfaßbarer Flüssigkeit (die zugleich die Urnahrung des Lebens ist) birgt.

„Milchsteine“ nennt Wolfgang Laib diese Objekte. Seit 1977 kam noch eine ganz andere Art des Lebens und Arbeitens hinzu: Laib, 1950 im südwest- deutschen Metzingen geboren, wohnt in Biberach/Riß, in einem Landstrich zwischen Ulm und Bodensee, in dem die Natur noch sie selbst zu sein scheint. Zwischen März und August zieht er hinaus in die ihn umgebende Landschaft und sammelt in Gläsern den Blütenstaub von Löwenzahn, Haselnuß, Kiefer und anderen blütentreibenden Gewächsen. Von den Blüten streift er den Staub in Gläser hinein und siebt ihn später durch Tücher, um ihn in seiner reinsten Form zu gewinnen. Fünf bis sechs Gurkengläser füllt Laib in einer Saison. Doch auch hier geht es ihm nicht um Masse und Erfolg, sondern um das Leben mit der Natur und das Erleben ihrer Schönheit.

Für Wolfgang Laib ist der feine, in Gelb- und Orange-Tönen leuchtende Blütenstaub unbegreiflich schön – schön, weil in ihm die potentiellen Kräfte für die Vegetation ganzer Landschaften stecken, schön aber auch, weil er eine Farbigkeit aufweist, die kein Maler erreichen kann.

Den gesammelten Blutenstaub streut Laib im Rahmen von Ausstellungen auf Glasplatten oder auf dem Fußboden aus, dicht konzentriert, so daß eine klar umrissene, geschlossene Bildfläche entsteht. Auch zur documenta 7 wird Laib unter anderem auf dem Fußboden des Museums Fridericianum einen etwa sieben Quadratmeter großen Bildteppich aus Blütenstaub schaffen. Mit diesem Ausbreiten des kostbaren Sammelgutes will er aber nicht, obwohl es so scheint, der Malerei Konkurrenz machen. Ihm geht es nicht um Bilder, sondern um Dokumente des Lebens.

Daß er überhaupt zu diesen Arbeitsergebnissen und damit zur Kunst gefunden hat, war für Laib keineswegs zwangsläufig; er kommt zwar aus einem kunstsinnigen Haus, hat aber nie eine künstlerische Ausbildung gehabt. Anfangs hing er auch der Utopie nach, er könne seine Vorstellungen vom ganzheitlichen Leben in weit größeren Zusammenhängen propagieren. Bald aber erkannte er, daß allein im Bereich der Kunst
die Situation so offen ist, daß in ihr die Umkehr alles menschlichen Tuns demonstriert werden kann. Er baute dabei konsequent auf den Versuchen älterer Künstler auf, den Kunstbegriff zu erweitern.

Laib bedient sich auch strenger künstlerischer Ausdrucksmittel, wenn er eine Marmorplatte ausschleift oder den in zwei Jahren gesammelten Blütenstaub in eine rechteckige Fläche zwingt. Doch die Kunst ist für ihn nur ein Mittel zum höheren Zweck. In der Kunstszene allerdings werden seine kultischen Bemühungen um die Quellen des Lebens und deren kühle Darstellung mittlerweile begierig aufgenommen: Laib war 1981 an der Ausstellung aktueller deutscher Kunst in Paris beteiligt, seine Arbeiten wird man auf der documenta antreffen und bei der Biennale in Venedig wird Laib in diesem Jahr einer der drei deutschen Repräsentanten sein.

HNA 7. 4. 1982

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