Mit der Pop-art kamen seine Bilder und Objekte in die Galerien und Museen (und so 1968 zur documenta 4), es blieben in verschiedenen deutschen Sammlungen auch einige seiner Spiegel-Bilder, doch damit schien für die hiesige Kunstszene das Kapitel Michelangelo Pistoletto erledigt. Dabei ist der in Turin lebende Künstler (Jahrgang 1933) keineswegs bei Gestaltungsweisen von vor 20 Jahren stehengeblieben. Doch gerade dies, daß er mit seinem frühen Stil gebrochen hat, daß er,
nach Aufbruch und Ausbruch verlangend, bei sich selbst jede Künstler zur Form der Stilbildung bekämpfte, machte ihn und sein Werk offensichtlich für weite Teile des Kunstmarktes unattraktiv.
Trotzdem wurden die Spiegel-Bilder ftir Pistoletto zu Schlüsselarbeiten, weil sie ihm den Weg zu seinen späteren Werken erschlossen: Schaut man normalerweise auf ein Gemälde, konzentriert sich der Blick voll auf den Malgrund und auf das Gemalte. Pistoletto nun arbeitete Anfang der 60er Jahre mit spiegelblank polierten Stahlflächen, auf die er die lebens- großen Bilder einzelner Figuren oder ganzer Figurengruppen klebte, die er nicht in die Spiegelfläche hinein, sondern aus ihr heraus schauen ließ. Der vor solch ein Spiegel-Objekt tretende Betrachter wird Teil eines Bildes, das sich – außer in den auf geklebten Figuren – ständig verändert und das seinen Blick auf die sich hinter ihm eröffnende Welt lenkt.
Der Spiegel, so Pistoletto, dreht den nach vorn gerichteten Blick und damit die Raumverhältnisse um. Der Künstler selbst wurde durch die Spiegel-Bilder umgedreht und entdeckte einen sehr offenen Weg für die Kunst: Wenn wir uns umdrehen, dann ist die Perspektive unendlich.
Pistoletto zog daraus die Konsequenzen und betrieb, wie er es nennt, eine Zeitlang Basis-Arbeit (was oftmals als politische Kunst mißverstanden wurde); er versuchte, die schöpferischen Kräfte neu zu organisieren, indem er persönlichen Ausdruck gegen die Rationalität setzte und indem er mit immer neuen Materialien und Formulierungen Bildzeichen im realen Raum schuf. Dabei blieb er allerdings sich und seinen Auseinandersetzungen mit Widersprüchen (Beständigkeit – Bewegung, Stabilität – Instabilität, Realität – Abbild) treu. Auch dem Spiegel als Gestaltungsmittel entsagte er nicht ganz. So zeigt er derzeit in einer italienischen Galerie ein an der Wand angebrachtes windschiefes Türobjekt, in dem ein in der Mitte eingelassener Spiegel den Betrachter unbeeindruckt von den sturzenden Linien zeigt. Davor steht ein pyramidenförmiges Objekt mit einem Kugelboden, auf dessen Plateau ein kleiner bunter Tempel steht. Diesen Stabilitäts-Verunsicherungen entzieht man sich nicht.
In einer anderen Ausstellung hat Pistoletto auf drei Räume drei Bruchstucke einer (nur gedachten) Riesenskulptur verteilt: Hand, Kopf und Schulterstuck. Der Betrachter begegnet Fragmenten und sieht doch das Ganze; er selbst wird zum Spurensicherer auf der Suche der verlorenen großen Form. – Möglicherweise wird sich Pistoletto unter anderem mit dieser Arbeit an der documenta 7 beteiligen.
Diese Art, mit vertrauten Zeichen Bilder im Raum zu inszenieren, Gesten und Situationen anzureißen, in immer neuen Anläufen alltägliche und doch überraschende Mittel einzusetzen und dabei auf poetische Weise Spannungen und Widerspruche hinzuweisen, ist von herausforderndem Charme. Dieser Charme zeichnet einen wesentlichen Teil der aktuellen Kunst Italiens aus.
HNA 8. 4. 1982