Catherine David will die documenta 10 (1997) als offenen Dialog gestalten. Sie will frische Werke zeigen, aber nicht nur das Neueste, wie sie im Gespräch mit unserer Zeitung bekannte.
Es ist meine Entscheidung, welches Werk eines Künstlers zur documenta l0ausgesucht wird. Das Wort ist unmißverständlich. Catherine David läßt keinen Zweifel daran, daß ihr die künstlerische Leitung für die Kasseler documenta des Jahres 1997 übertragen wurde. Ihre persönliche Auswahl sei gefragt – und nicht irgendeine andere Position.
Die neue documenta-Chefin sagt das freundlich, verbindlich und entschieden. Ihr Selbstbewußtsein ist von einer natürlichen Selbstverständlichkeit, unaufdringlich und unaufgeregt. Sie weiß, worauf sie sich eingelassen hat: Die documenta ist nicht mit den Ausstellungen, die sie in der Pariser Kunsthalle Jeu de Paume zu betreuen hat, zu vergleichen; sie ist um vieles größer. Aber die Größe macht ihr keine Angst. Im Gegenteil, sie hat die Situation klar im Blick: Das Museum Fridericianum bildet das Ausstellungszentrum, da gibt es für sie keinen Zweifel. Aber schon schwieriger ist es mit der documenta-Halle; die sei wie viele – moderne Museen ein architektonisches Objekt und kein Ausstellungsraum.
Die Frage, ob diese beiden zentralen Gebäude für die nächste documenta ausreichen oder ob sie nach weiteren Spielorten suchen muß, ist für Catherine David derzeit nicht wichtig. Sie gesteht Jan Hoet und seiner vorigen documenta zu, daß die Einbeziehung so unterschiedlicher Gebäude wie der Neuen Galerie, der temporären Bauten in der Aue und des Ottoneums der Ausstellung zu einer besonderen Dynamik verholfen hätten, doch sei die Kunstschau insgesamt zu groß geraten.
Aber die documenta-Macherin hält es für durchaus denkbar, daß sich Künstler für ihre Projekte andere Räume in der Stadt suchen. Kassel biete geradezu gegensätzliche Situationen für die Kunst an. Damit erübrigt sich die Frage nach dem Charakter der geplanten Ausstellung – ob Catherine David eher eine streng museale Schau wie Rudi Fuchs 1982 oder eine offene Arena wie Jan Hoet 1992 wolle.
Ihrer Meinung nach wäre es töricht, für alle Werke gleiche Bedingungen zu schaffen, denn die einen brauchten geschlossene Ruhe, die anderen eine vitale urbane Situation. Sie will mit den Künstlern die Plätze aussuchen, sie will mit ihnen das intensive Gespräch führen. Doch in dem Augenblick, in dem es Meinungsverschiedenheiten darüber gebe, welches Werk gezeigt werden solle, behalte sie sich das letzte Wort vor: Da die documenta keine Kunstmesse sei, gehe es nicht darum, das neueste Werk zu zeigen, sondern das beste. Es sei keine Frage des Entstehungsdatums, ob eine Arbeit auf der documenta 10 gezeigt werde, entscheidend sei vielmehr, ob es aus der Sicht von 1997 frisch, wichtig und aufregend wirke. Insofern will sich Catherine David auch nicht auf die Festlegung einlassen, nur Werke lebender Künst1er auszustellen.
Gibt es denn überhaupt Bewegung in der Kunst, sind Entwicklungen zu spüren und damit Veränderungen in der Kunstlandschaft? Die documenta-Leiterin unterscheidet scharf zwischen dem, was die Künstler machen, und dem Kunstbetrieb. Kunst als Dekoration und Unterhaltung habe sie nie interessiert, erst recht nicht die Kunstszene. Es gebe heute eine Menge standardisierter Kunstproduktionen; die lasse sie gleichgültig. Ihr Interesse richtet sich vielmehr auf eine Kunst, die tiefe menschliche Erfahrungen vermittle und diese in beispielhafte ästhetische Formen bringe.
Die Zeit der mit Utopien und Ideologien befrachteten Avantgarde ist vorbei. Aber Catherine David glaubt, daß es auch heute eine beträchtliche Zahl von Künstlern gebe, die mit ihren auf menschliche Erfahrung und ästhetisches Experiment zielenden Arbeitsweisen den Avantgardisten sehr ähnlich seien. Namen wie Bruce Nauman und Robert Ryman fallen in diesem Zusammenhang. Doch die documenta-Leiterin ist sparsam beim Nennen von Namen. Die Frage nach der Künstlerliste wehrt sie ab, bevor sie gestellt worden ist: Auf der documenta gehe es nicht um Künstlerlisten, sondern um Gruppen von Werken, die in einen Dialog gebracht werden müßten. Auch die Frage nach ihrem Team hält sie für verfrüht. Allerdings weiß sie, daß sie sich bei der Künstlerauswahl auf eine Vielzahl internationaler Berater verlassen kann, die sie seit langem kennt. Catherine David denkt universal. Wenn sie über die impulsgebende Kunst unseres Jahrhunderts spricht, dann greift sie weit über die bildende Kunst hinaus und verweist auf Kafka oder den italienischen Film. Andererseits bezieht sie selbstverständlich die Kunst Afrikas oder Brasiliens in ihre Überlegungen mit ein. Schon im Denkansatz verspricht die documenta 10 eine völlig andere Sicht.
Catherine David
Die künstlerische Leiterin der documenta 10 (1997), Catherme David, wurde 1954 in Paris geboren. Sie studierte von 1972 bis 1980 Literatur, Spanisch und Portugiesisch sowie Kunstgeschichte. Ab 1981 arbeitete sie als Kuratorm am Centre Pompidou in Paris, seit 1990 gehört sie der Ausstellungsleitung der Kunsthalle Jeu de Paume in Paris an. Sie organisierte Ausstellungen unter anderem von Gilberto Zone, Reinhard Mucha, Lothar Baumgarten, Lazlo Moholy Nagy, Robert Gober, Marcel Broodthaers, Raymond Hains, Eva Hesse und Pier Paolo Calzolani.
Am 1. Juli dieses Jahres nimmt Catherine David offiziell ihre Arbeit als documenta-Leiterin auf. Ein Jahr später wird sie nach Kassel übersiedeln. Die documenta 10 soll über einen Etat von etwa 20 Millionen Mark verfügen. Je 2,8 Millionen Mark sollen die Stadt Kassel, das Land Hessen und der Bund beisteuern. Die übrigen Kosten sollen durch eigene Einnahmen gedeckt bzw. durch Sponsoreri getragen werden.
HNA 28. 5. 1994