Die Gründerzeiten sind vorbei

Großer Bahnhof für die künstlerische Leiterin der documenta 10, Catherine David: Der größte Saal im Museum Fridericianum war zu klein, um den mehreren hundert Zuhörern Platz zu bieten, die beim ersten öffentlichen Vortrag der aus Paris kommenden Ausstellungsmacherin dabei sein wollten. Wie zu erwarten war, präsentierte die Französin weder ein Ausstellungskonzept noch eine Namensliste für die nächste documenta. Auch gab sie nicht preis, wen sie in ihr Team holen will. Aber sie lieferte eine präzise Beschreibung der Voraussetzungen, von denen sie ausgeht, und der Zielsetzungen, die sie für sich ausschließt.

Die documenta begreift Catherine David als ein Laboratorium. Die Geschichte dieser Ausstellung sei eine Geschichte der Veränderungen. Daher sei es eine Eigenschaft der documenta, daß sie keine spezifischen Eigenschaften habe. Also sieht sie sich frei darin, ebenfalls neue Formen zu erproben. Sie will improvisieren können – wie bei ihrem gestrigen Vortrag. Doch will sie die Experimentierfreude nicht als Bereitschaft zu Chaos und Beliebigkeit verstanden wissen.

Zuvor hatte Oberbürgermeister Georg Lewandowski vor einem geladenen Kreis einen Empfang für Catherine David gegeben, bei dem er die documenta-Leiterin offiziell in Kassel willkommen hieß. Lewandowski versicherte, daß alles getan werde, damit die Ausstellung von den Bürgern mitgetragen werde. Bei dem Empfang
wurde auch eine Wein- und Sekt-Edition vorgestellt, von deren Verkauf die documenta-Kasse profitieren soll. Ob die unübersehbare Präsentation von fünf französischen Kleinwagen mit documenta-Aufdruck vor dem Museum Fridericianum auch schon eine Einstimmung auf das Werbe- und Sponsoren-Konzept war, wird sich noch zeigen. Ein Bericht über den Vortrag folgt in der morgigen Ausgabe.
HNA 16. 9. 1994

Es war wie der Startschuß zur nächsten documenta: Die Französin Catherine David wurde in Kassel offiziell als documenta-Leiterin begrüßt; und sie
skizzierte die Basis, auf der sie arbeiten will.

Der Fixpunkt ist und bleibt Arnold Bode. Er begründete oder – wie es Catherine David sieht – erfand die documenta, die zur größten Ausstellung zeitgenössischer Kunst werden sollte. Die 40jährige französische Ausstellungsmacherin David lernte Bode nicht mehr kennen. Sie hat auch keine seiner (vier) documenten gesehen. Ihre erste documenta war die, die Rudi Fuchs 1982 verantwortete. Es ist auch die Kasseler Kunstschau, die sie am meisten beeindruckte.

Trotzdem weiß Catherine David, was Bode im Sinn hatte, als er mit anderen 1955 die documenta ins Leben rief: Nach Ende des Zweiten Weltkrieges einen Ort zu schaffen, an dem ein Überblick über die Entwicklung der modernen Kunst, gegeben werden konnte, und an dem die kulturelle Verbindung zwischen Europa und den USA wieder herzustellen war. Doch die Motive der Gründerzeit sind hinfällig, wie Catherine David bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt im Kasseler Museum Fridericianum erklärte: Die Nachkriegszeit ist vorbei, auch wenn die Zeit der Kriege nicht vorüber ist; dem Kolonialismus gehe es gut und der Information über Kunst (in den zahlreichen Museen) auch.

Also müsse die documenta nicht mehr ein Ort der Information sein. Auch dürfe die Kunstschau weder als Messe noch als Mittel zur Unterhaltung mißbraucht werden. Vielmehr könne die documenta als ein Instrument der Erfahrung verstanden werden; das aktuelle Tendenzen in Kunst und Kultur spiegele.

Es ist schon ein Phänomen, wenn eine Ausstellungsmacherin mit knapp l5jähriger Berufserfahrung in dem Augenblick, in dem sie über die Vorbereitung der größten Ausstellung für zeitgenössische Kunst spricht, sich mit keinem Wort konkret auf ein künstlerisches Werk bezieht. Natürlich weiß sie, daß sie mit Werk- und Na-
mensnennungen Festlegungen treffen oder Spekulationen auslösen würde. So bringt sie auch in ihrem Vortrag ganz elegant einen ironischen Seitenhieb gegen ihren Vorgänger Jan Hoet unter, wenn sie sagt, sie habe ihr kleines Köfferchen mit den Dias nicht mitgebracht. Denn Hoet hatte im Vorfeld der documenta die Interessenten mit Dia-Projektionen zugeschüttet. Aber in dieser Haltung von Catherine David steckt nicht nur die Ablehnung einer anderen Position. Sie hat einfach einen anderen Zugang zur Welt; ihr Blick geht weit über die Grenzen der Bildenden Kunst hinaus – hin zu Philosophie und Dichtung und zum Film.

Dem Film, so scheint es, gehört ihre große Liebe – vielleicht auch deshalb, weil mit seinen Mitteln Erfahrungen zu vermitteln sind, die sonst kein
Medium leistet. So brachte Catherine David zu ihrem Kasseler Entree weder ein Ausstellungskonzept noch eine Künstlerliste als Visitenkarte mit, sondern den Film „D‘Est“ der belgischen Filmemacherin Chantal Akerman, der eine imaginäre Reise von Ostdeutschland nach Rußland beschreibt.

Nie zuvor begann eine documerita-Einstimmung mit einer so klaren Zustandsbeschreibung der Situation: Catherine David sieht wohl die gegenwärtige Krise der Kunst, weiß aber, daß dies eine Dauerkrise ist; sie kennt die Probleme mit der Urteilskraft, bekennt sich aber zu (subjektiven) Kriterien und wendet sich gegen die Vorstellung, daß alles möglich sei; sie weiß um die Schrecklichkeiten der Welt, meint aber, daß der Zynismus nicht die einzig mögliche Antwort sein dürfe.

Am entschiedensten aber lehnt sie Fragen ab, die sich darauf beziehen, daß sie als erste Frau die documenta leitet. In dem Land von Lou Salomé, Rosa Luxemburg, Ingeborg Bachmann und Pina Bausch, meint sie, sollten solche Fragen nicht gestellt werden. Sie reklamiert für sich, „die am wenigsten schlechte documenta“ zu machen.

HNA 17. 9. 1994

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