Mit dem Appell, die Kultur zu erhalten und zu stärken, eröffnete Kulturdezernentin Irmgard Schleier im Kunstverein eine weitere Veranstaltung in der Reihe 40 Jahre documenta. Wenn es Mitte der 50er Jahre in der vergleichsweise armen Zeit möglich gewesen sei, eine documenta auf den Weg zu bringen und ein Staats- theater zu bauen, dann dürfe es nicht passieren, Kunst und Soziales gegeneinander auszuspielen. Unter dem Beifall der Besucher sagte die Dezernentin: Wir brauchen die documenta, die Museen, das Schauspiel, die Oper, den Kunstverein und die Freie Szene.
Zu eröffnen war die Doppelausstellung Face to Face mit Künstlerporträts von Vera Isler und Präsente (Werke von docurnenta-Künstlern, die diese auf Initiative von Karl Oskar Blase 1975 Arnold Bode zum Geschenk machten). Während sich die Mehrzahl der Künstler an die Vorgabe hielt, nur Kleinformatiges einzureichen, schenkte der Bode-Schüler Michael Buthe ein großformatiges Bild. Das wurde, wie Prof. Heiner Georgsdorf in seiner Eröffnungsrede sagte, mit Sponsorenhilfe für die Ausstellung restauriert. Es bildet das Zentrum der Ausstellung und ist nach Georgsdorf eine Hommage an den 50jährig gestorbenen Buthe. Georgsdorf wies darauf hin, daß das documenta-Archiv, das die Bode-Präsente verwalte, Unterstützung bei der konservatorischen Betreuung brauche.
Um die documenta selbst, um ihre Geschichte und Zukunft, ging es in dem Vortrag von Alfred Nemeczek, der einst Kunstkritiker dieser Zeitung war und heute stellvertretender Chefredakteur bei art ist. Nemeczek nahm die Zuhörer mit auf eine Reise in die 50er und 60er Jahre, die er durch viele persönliche Erinnerungen und Spitzen lebendig und unterhaltsam gestaltete. Er beschrieb seinen Weg vom Volontär, der von Kunst keine Ahnung hatte (1954), hin zum documenta-Pressesprecher, der 1963/64 erstmals das Gerangel um den Etat miterlebte. Arnold Bode ist für Nemeczek der Hauptgrund dafür, daß die documenta in Kassel entstand und blieb. Bode habe die Stadt im Griff gehabt und ihr das gewaltige Vermächtnis aufgebürdet.
Die documenta ist nach Nemeczek immer ein Abenteuer gewesen. Sie habe in der Kunstszene nichts durchgesetzt, wohl aber heilig gesprochen. Verrisse habe es immer gegeben; doch die documenta sei gegen Kritik immun geworden. Nemeczek rechtfertigte schließlich auch seine Kritik an der jetzigen documenta-Planung. Er habe ein wenig die Geduld verloren, weil sich bislang documenta- Leiterin Catherine David nur vage geäußert habe und zum vergleichbaren Zeitpunkt Jan Hoet schon sein Team und Logo vorgestellt habe. Man wisse nur, was die docurnenta nicht werden solle. So warte und hoffe er nun auf den 5. Oktober, den Tag der documenta-Pressekonferenz.
Am Vorabend, am 4. Oktober, gibt es um 20 Uhr eine weitere Veranstaltung zu 40 Jahre docurnenta. Dann werden in den Räumen des Kunstvereins Prof. Kasper König (Rektor der Städelschule, Frankfurt), Prof. Tilman Osterwold (neuer Leiter des Museums Fridericianum) und Prof. Werner Schmalenbach (ehem. Direktor Kunst- sammlung Nordrhein-Westfalen) ein Streitgespräch über die Frage documenta ohne Ende? (Gesprächsleitung Dirk Schwarze) führen. Die Veranstaltung wird von der HNA in Zusammenarbeit mit dem Kulturamt der Stadt und dem Kunstverein ausgerichtet.
HNA 8. 9. 1995