Das Ich und die Welt

Auf schmalen hohen Betonsockeln stehen in einer strengen Reihe fünf Bronzebüsten. Sie stellen immer den gleichen Kopf dar. Doch die Bronzen sind nicht gleich. Jede spiegelt einen anderen Ausdruck. Der eine Kopf blickt schmunzelnd nach unten, ein zweiter ernsthaft geradeaus, ein dritter überlegen nach oben.
Stellt man sich frontal vor die Büsten und läßt den Blick erst langsam und dann rascher von links nach rechts schweifen, dann rücken die Köpfe zusammen und scheinen zu einem sich bewegenden Porträt zu verschmelzen. Das, was die Bronzeplastik am wenigsten vermag, den Ablauf einer Bewegung darzustellen und die mimischen Veränderungen sichtbar werden zu lassen, gelingt in dieser Reihung. Die Bronze wird zum expressiven Medium des Individuums, der Subjektivität – gesteigert durch den Effekt, daß der Schweizer Urs Lüthi (Jahrgang 1947), von dem die Arbeit stammt, sich hier mit seinem Selbstporträt in Szene setzt.

Ist damit Lüthi wieder bei seinem alten Thema angekommen? Denn in den 70er und 80er Jahren wurde er als ein Künstler bekannt, der fast ausschließlich sich selbst in Fotoserien darstellte – in alle möglichen Rollen und Verkleidungen schlüpfend. Der Künstler als totaler Narziß?

Da mag etwas dran sein. Trotzdem kann diese Deutung leicht auf eine falsche Fährte führen. Lüthi ist nicht zu den Künstlern zu rechnen, die ständig nur in den Spiegel schauen, um sich zu ergründen und das eigene Innere nach außen zu kehren. Nein, Lüthi ist kein Selbstzerfleischer, vielleicht nicht einmal mehr ein Selbstdarsteiler. Vielmehr hat er, wie er bekundet, erkannt, daß er die Rollenspiele, Veränderungen und Verformungen des Menschen dann am besten vorführen kann, wenn er ausschließlich mit dem eigenen Porträt arbeitet. Die absolute Konzentration auf das eine Ich hilft ihm dabei, von der Individualität abzusehen und die allgemeine Subjektivität in den Blick zu nehmen. Lüthis immer neu verformtes Porträt wird damit zum allgemeinen Schlüssel für die Welt der Gefühle und des Ausdrucks.

Wie den Philosophen geht es Lüthi um das Weltverständnis. Wie stehen sich das Ich und die Welt gegenüber, wie kommen die unendliche Ordnung und das Subjekt zusammen? Der Schweizer formuliert in seinen jüngsten Arbeiten pointiert und spannungsreich die Fragen, überläßt aber den Betrachtern die Antworten. Seine zentrale Installation im Kasseler Kunstverein bleibt offen und vieldeutig: Die fünf eingangs beschriebenen Bronzeköpfe stehen vor einer Wand, auf der drei Hinterglasbilder hängen. Die beiden äußeren Schwarz-Weiß-Bilder zeigen zwei Aspekte des Globus, und das großformatige schwarz-gelbe in der Mitte wirkt wie der Ausschnitt aus einem Ornament sich regelmäßig überschneidender Kreise. Ich und Welt sind konfrontiert, Gefühl und Gesetz, Chaos und Ordnung.
Auch das lässt Lüthi offen – wie stark man die Bronzen und Bilder aufeinander bezieht: Macht da einer selbstversunkrn Bewegungsübungen oder blickt er hochmütig bis grinsend über die Ordnung der Welt hinweg? Je länger man sich in dem Raum aufhält, desto stärker empfindet man ihn als ein elektrisch aufgeladenes Feld. Neben dieser zentralen Arbeit die „Universselle Ordnung“ zeigt Lüthi noch eine Mappe, in der er auf der bildlichen Ebene das Thema der Installation abhandelt, sowie zwei kleinere Werkkomplexe. Außerdem lernt man die 20 Bücher kennen, die Lüthis „Geistiges Inventar“ bilden. Eben doch ein Philosoph, der in Bildern spricht.

HNA 15. 9. 1990

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