„Der Moment im Kopf“

Mit einem dumpfen Schlag wurde gestern morgen vor der Kasseler Orangerie die über der vereisten Schneelandschaft liegende Stille zerrissen: Aus einer langgestreckten Detonationswolke erhob sich für Sekunden eine wirbelnde Wand aus roten Papierblättern, die vom Wind leicht in Richtung auf die Orangerie zugetragen wurde. Allmählich sank die Wand in sich zusammen, die Blätter segelten zu Boden und färbten die weiße Fläche rot ein.

Die Aktion war ein Probeschuß des im schweizerischen St. Gallen lebenden Künstlers Roman Signer (Jahrgang 1938): Es sollte geprüft werden, mit welchen Mitteln für Sekunden eine 20 bis 25 Meter hoher dichte Papierwand über der Karlsaue in die Luft geschossen werden kann. Geprobt hatte man mit 16 Sprengladungen, die in jeweils drei Meter Abstand längs der Mittelachse der Karlsaue postiert waren. Im großen Stil soll die Sprengaktion während der documenta 8 (12. Juni bis 20. September) inszeniert werden.

Dann soll eine 20Meter hohe Papierwand über die gesamte Länge der Wiese (320 Meter) gezogen werden, wobei im Abstand von höchstens zwei Metern von der dann grünen Wiese weiße Papierstapel in die Luft gewirbelt werden sollen. „Schnelle Veränderungen“ war eine Ausstellung betitelt, die Roman Signer im vorigen Jahr in Stuttgart gezeigt hatte: Für seine bildhauerische Arbeit gehört seit Jahren der Umgang mit zeitlich schnell vergänglichen Werken zum Prinzip.

Während andere Künstler mit großer Ausdauer sich bemühen, Bilder und Zeichen zu schaffen, die sie selbst und ihre Zeit überleben, setzt Signer gerade auf die Vergänglichkeit. Er lebt in und mit der Zeit und versucht, ihrem schnellen Verlauf Bilder abzuringen. In seiner Sprengplastik konzentriert sich die ganze Energie auf einen Moment, in dem sich Form und Idee so entfalten müssen, daß sich die dabei entstehenden Bilder in die Köpfe einbrennen. „Der Moment im Kopf‘ ist für Roman Signer das.Wesentliche..

Der gelernte Bauzeichner besuchte die Kunstgewerbeschule Luzern, bevor er für einige Zeit nach Warschau ging. Seit einigen Jahren lebt er in St. Gallen als freier Künstler und erprobt auf seine Weise die Erweiterung des Kunstbegriffs. Neben Skulpturen, die sich aus Sprengungen ergeben, fasziniert ihn die Wirkung der Naturkräfte (Regen, Wasser, Eis). Für seine Aktion zur documenta 8 erhofft er sich allerdings Windstille und trockenes Wetter.

HNA 24. 1. 1987

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